Stefan Rath bewegt die Hand von Birgit Denneler, ein Teil der Therapie bei Morbus Sudeck. Foto: Roberto Bulgrin

Das Handgelenk heilt nach dem Bruch – doch der Schmerz will auch Monate später nicht weggehen. Die Esslingerin Birgit Denneler berichtet von ihrem Leiden, CRPS oder auch Morbus Sudeck genannt.

Esslingen - Sie müssten mal den Hefezopf sehen, den Frau Denneler uns vorbei gebracht hat“, sagt Stefan Rath. Die angesprochene Birgit Denneler, eine zierliche Frau von 69 Jahren, ziert sich etwas angesichts des Kompliments durch den Physiotherapeuten. „Man ist auf alles stolz, was man wieder machen kann“, sagt sie. Im Physiocentrum in Esslingen ist Denneler Patientin. Vor wenigen Monaten wäre es für sie noch undenkbar gewesen, den schweren Hefeteig zu kneten – denn bei ihr wurde Morbus Sudeck, eine seltene Schmerzkrankheit, diagnostiziert.

Die Rentnerin, die stets aufgeregt fröhlich wirkt, leidet noch immer unter den Folgen ihrer Entscheidung, am 20. Juni 2018 eine Engelsfigur im oberen Fach ihres Wohnzimmerregales zu verrücken. Dazu stieg sie auf einen Stuhl – und kam beim Abstieg zu Fall. Birgit Denneler brach sich das rechte Handgelenk. Im Krankenhaus wurde sie drei Tage später operiert, war am Folgetag wieder zuhause und sehnte der Heilung entgegen. Doch fünf Wochen später waren die Schmerzen groß, Handgelenk und Unterarm heiß, dick, violett angelaufen und die Haut glänzend – „höllisch“, erinnert sich Denneler. Auf die Vermutung ihres Physiotherapeuten hin, es könne sich um Morbus Sudeck handeln, konsultierte sie ihren Orthopäden. Dieser stellte am 25. Juli die Diagnose.

Viele Ärzte kennen sich nicht mit CRPS aus

Morbus Sudeck oder komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) ist ein seltenes Gesundheitsproblem. Aktuell seien etwa 87 500 Menschen in Deutschland in ärztlicher Behandlung, jährlich kämen rund 2000 Neuerkrankte hinzu, sagt Dirk-Stefan Droste, Sprecher des CRPS-Bundesverbandes der Selbsthilfegruppen. Er beruft sich auf Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Am Anfang steht in den meisten Fällen eine Verletzung – oft ein Handgelenksbruch wie bei Birgit Denneler oder eine Operation. Doch im Zuge der gewöhnlich folgenden Heilung gebe es eine Störung, erläutert Martin Krumbeck, Chefarzt des Schmerztherapiezentrums Bad Mergentheim. Die Symptome einer Entzündungsreaktion halten und verstärken sich: Die betroffene Stelle wird meist heiß, dick und läuft violett an, die Haut glänzt, es kann zu Veränderungen des Haarwuchses und der Nägel kommen. Der Schmerz steht in keinem Verhältnis zum Auslöser und wird meist als Brennen oder Stechen beschrieben. „Du kannst nicht mal einen Wassertropfen aushalten“, sagt Birgit Denneler.

Lange fühlte sie sich hilflos. Der Orthopäde lehnte eine weitere Behandlung ab, gab ihr Rezepte für Physio- und Ergotherapie sowie den Rat, sich im Internet weiter zu informieren. Der Chirurg, der sie am Handgelenk operiert hatte, schloss eine Morbus-Sudeck-Erkrankung kategorisch aus. „Solche Reaktionen gibt es immer wieder“, sagt Krumbeck. Grund sei mangelnde Aufklärung der Ärzte und die Sorge, einen Fehler eingestehen zu müssen. „Dabei bräuchte man als Arzt keine Angst davor zu haben, eine CRPS-Erkrankung anzuerkennen“, sagt der Schmerzexperte. „CRPS ist nicht die Folge eines Behandlungsfehlers, sondern einfach Pech.“ Teilweise geht CRPS mit einer Nervenverletzung einher, oft aber nicht. Neben Knochenbrüchen und Operationen können auch schon leichte Prellungen oder Thrombosen Auslöser sein, berichtet der CRPS-Verband auf seiner Webseite. Warum all das passiert, ist nicht voll geklärt. „Ein Schmerz hat immer zwei Komponenten“, erklärt Krumbeck. Zum einen die Schädigung von Gewebe. Zum anderen deren Verarbeitung im Gehirn, an das die Verletzung über die Nerven gemeldet würden. Bei vielen Morbus-Sudeck-Patienten hätten sich Veränderungen bei der Schmerzverarbeitung im Gehirn etabliert. Das Gehirn wurde sozusagen umprogrammiert. „Ähnlich wie beim Phantomschmerz“, sagt der Experte.

Ergo- und Physiotherapie gegen Versteifung

„Man ist wie aus dem Leben gerissen“, beschreibt Birgit Denneler die Folgen. Nicht einmal eine Bluse knöpfen habe sie können. Daraufhin habe ihr Mann vieles übernehmen müssen: beim Anziehen helfen, Bügeln und selbst die Haare frisieren. Etwa sieben Wochen nach dem Unfall ergatterte die 69-Jährige einen Termin bei einem Spezialisten für Handchirurgie in einem anderen Krankenhaus. Der Empfahl ihr zusätzlich zu Ergo- und Physiotherapie Schmerzmedikamente. Wirklich zufrieden war die rührige Frau damit aber nicht, sie suchte nach anderen Methoden. Im Februar 2019 kam sie vier Wochen lang ins Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim – „ein Glück“, sagt Denneler.

Die 69-Jährige fühlte sich lange hilflos und noch länger unverstanden – im Bekanntenkreis und selbst in der Familie. Die 69-Jährige vermutet oft: „Die denken, ich simuliere das alles.“ Denn Morbus Sudeck kenne so gut wie niemand. So war es für die schmerzgeplagte Frau eine Erleichterung, in Bad Mergentheim andere Betroffene um sich zu haben und täglich Therapieangebote probieren zu können. Nach vier Wochen brauchte sie keine Schmerzmittel mehr und ihre Hand war viel beweglicher. Positiv für ihre Genesung sei auch die frühe Physio- und Ergotherapie in Esslingen gewesen, bescheinigten ihr die Ärzte in Bad Mergentheim.

Letzter Ausweg: Amputation

Trotz allem habe sie ihr Leben nicht komplett umgestellt, sagt Denneler. „Ich bin ein fröhlicher Mensch und geh trotzdem aus.“ Doch das trifft nicht auf jeden Betroffenen zu, wie Dirk-Stefan Droste vom CRPS-Netzwerk deutlich macht. Viele zögen sich zurück, nicht selten wende sich der Freundeskreis ab oder es komme gar zur Trennung vom Partner. Der heute 46 Jahre alte Kölner CRPS-Patient hatte sich 2012 das linke Fersenbein gebrochen und war bald darauf auf einen Rollstuhl angewiesen. Trotz anhaltender Schmerzen galt er irgendwann für die Krankenkasse als austherapiert und finanzielle Probleme ließen nicht lange auf sich warten. „Man bekommt mit den Behörden Stress und mit den Krankenkassen, man muss um jede weitere Therapie kämpfen“, sagt er. Man habe Angst und irgendwann zeigten sich psychische Probleme. Auch im Umgang mit den Behörden ist ihm zufolge die geringe Aufklärung über CRPS ein Problem. „Man muss hartnäckig sein und die richtigen Berater haben.“

Dirk-Stefan Droste entschied sich für einen Weg, der anderen drastisch erscheinen mag. Er ließ sich den linken Unterschenkel amputieren. „Für mich war die Amputation der Weg aus dem Rollstuhl raus“, sagt der 46-Jährige. Er konnte wieder arbeiten. Doch der Sudeck sprang über auf den rechten Fuß. Droste ließ sich nach erfolglosen Therapieversuchen auch den rechten Unterschenkel amputieren und läuft seither mit zwei Beinprothesen. Für die Hände, beide mittlerweile ebenfalls betroffen, half eine Therapie mittels Elektroimpulsen durch einen implantierten Neurostimulator. Mittlerweile arbeitet der Kölner einige Stunden täglich, vier Tage die Woche, im Personalwesen. Er hat Glück mit seinem Arbeitgeber. Viele Wiedereinsteiger würden rausgemobbt, kritisiert Droste. Er kämpft dafür, dass Morbus Sudeck im Medizin-Studium, bei Behörden und in der Gesellschaft eine größere Rolle spielt. „Es darf gerne eine seltene Erkrankung bleiben, aber nicht länger eine unbekannte!“

Nie ganz wie vorher

„Ich weiß noch, wie sie mich an die Stange an der Wand geführt haben und ich meine Finger nicht darum legen konnte“, erinnert sich Birgit Denneler im Physiocentrum im Gespräch mit Stefan Rath. Noch immer macht sie dreimal täglich ihre Übungen zuhause. „Ich bin sehr diszipliniert“, sagt sie. Es scheint zu helfen. „Mittlerweile ist sie für uns wie andere Patienten“, sagt Rath. Jetzt sei der „Sudeck aus dem Kopf“ und man könne stärker die Beweglichkeit trainieren – auch wenn die Hand nie ganz wie vorher funktionieren werde. Ein wenig muss sich Denneler noch an ihre wiedererlangten Fähigkeiten gewöhnen. Noch immer nimmt sie instinktiv die linke, gesunde Hand, um eine Tür zu öffnen. Doch stundenweise sei sie schmerzfrei.