Die neuen Häuser in der Rutesheimer Heuweg-Siedlung sind einfach, aber funktional. Die Vermietung der Wohnung im Obergeschoss ist obligatorisch. Foto: privat

Vor 70 Jahren entsteht in Rutesheim aus der Wohnungsnot heraus die Heuweg-Siedlung. Vertriebene und auch „echte“ Rutesheimer – meist junge Familien – finden dort ein neues Zuhause.

Wohnraum – vor allem bezahlbarer – ist nicht nur in der heutigen Zeit knapp. Die Rutesheimer Heuweg-Siedlung ist vor 70 Jahren aus dieser Knappheit heraus entstanden. Den runden Geburtstag nahm Autorin Waltraud Wechsler vom „Arbeitskreis Geschichte vor Ort“ jetzt zum Anlass, die Entstehung dieser Siedlung, die südlich der Gemeinde und nördlich der Rutesheimer Bahnstation liegt, aufzuschreiben. Sie selbst hatte bis zu ihrem 17. Lebensjahr im „Heuweg“ gelebt, ist dann mit ihren Eltern wieder zurück in den Ortskern, ins Haus ihrer Großmutter, gezogen. Sie stöberte für ihre Chronik durch Gemeinderatsprotokolle, Mitteilungsblätter der Gemeinde Rutesheim, Heimatbuch und Stadtchronik sowie auch durch Privatarchive.

Erste Überlegungen einer Besiedelung Der Leonberger Stadtteil Silberberg, der südlich an die Heuweg-Siedlung angrenzt, wurde bereits im Jahr 1921 gegründet. In der Rutesheimer Gemeindeverwaltung befürchtet man, dass sich die „Silberberger“ weiter ausbreiten und gar der Rutesheimer Bahn-Haltepunkt aufgegeben werden könnte.

Überlegungen, dort selbst eine Wohnsiedlung zu bauen, gibt es daher schon im Jahr 1941, wie einem Gemeinderatsprotokoll zu entnehmen ist. Gedacht ist an Wohnungen für etwa 500 Einwohner. Eine perfekte Lage für Pendler – angesichts der idealen Anbindung zur Bahn. Eine große Herausforderung allerdings sind Wasserversorgung, Elektrifizierung und Kanalisation – dies umzusetzen, fühlen sich die Rutesheimer zu diesem Zeitpunkt vor allem aus Kostengründen nicht gewachsen. Die Pläne verschwinden zunächst wieder in der Schublade.

Bewegung kommt ins Spiel Im Frühjahr 1951 wird wegen der akuten Wohnungsknappheit die Forderung laut, mit der Bebauung im Gebiet Heuweg – der Markungsname leitet sich von „hohem Weg“ ab – endlich zu starten. Und so langsam kommt tatsächlich Bewegung in die Sache. Für etwa 57 000 Deutsche Mark beginnt die damalige Vedewa, die Vereinigung der Wasserversorgungsverbände und Gemeinden mit Wasserwerken, mit dem Bau der Wasserleitung. Die Errichtung einer Kanalisation wird später folgen. Die Gemeinde Rutesheim und das Landessiedlungsamt nehmen Verhandlungen mit der Württembergischen Landsiedlung GmbH über den Bau einer Nebenerwerbssiedlung auf.

Der Genehmigungsantrag des Plans wird beim Landratsamt Leonberg gestellt. Landrat Ramsauer erteilt am 10. Januar 1952 die Genehmigung für 18 Siedlerstellen.

Wer hat das Recht, ein Haus zu kaufen? Nicht nur für Heimatvertriebene war das neue Wohngebiet gedacht. „Sowohl Alt- als auch Neubürger sollten zum Zuge kommen“, sagt die heute 72-jährige Waltraud Wechsler, deren Mutter eine „echte“ Rutesheimerin war. „Da es kaum Möglichkeiten gab, im Ort ein Baugebiet zu erwerben, waren meine Eltern glücklich, dass sie in der Siedlung ein Haus für ihre junge Familie erwerben konnten und endlich ein eigenes Zuhause hatten.“ Die ersten Häuser werden im August 1953 bezogen. Der erste Bauabschnitt umfasst die Aichinger Straße 1 bis 16 sowie Sonnenrain 4 und 6. Später wird der Bebauungsplan in Richtung Osten erweitert. Die Befürchtung der Verwaltung, es könne zu Streitigkeiten bei der Zuteilung der Häuser an die Erwerber kommen, bewahrheitet sich nicht. Alle einigen sich im Vorfeld gütlich.

Haltung von Kleintieren Nach der Fertigstellung muss jeder Eigentümer das Haus erst einmal grundreinigen. „Die Auflagen beim Kauf waren allerdings nicht ohne, es war ja eine Nebenerwerbssiedlung“, erzählt Waltraud Wechsler. So muss jeder Eigentümer mindestens eine kleine Parzelle nachweisen, die landwirtschaftlich genutzt wird. Die Haltung von Kleintieren wie Hasen oder Hühnern in einem eigenen dem Haus nahen „Stall“ ist ausdrücklich erwünscht. „Diese Ställe wurden jedoch bald teilweise als Garagen ausgebaut“, erinnert sich die 72-Jährige.

Die Vermietung der Wohnung im Obergeschoss ist obligatorisch, die Mietpreise sind gebunden und erschwinglich. Gekündigt werden kann den Mietern frühestens nach Ablauf der Mietpreisbindung und/oder nach Rückzahlung der Darlehen der Landsiedlungsgesellschaft.

Einfach, aber funktional Waltraud Wechsler erinnert sich noch genau an die einfache Ausstattung der funktionalen Doppelhäuser. „Sie waren voll unterkellert und zweigeschossig. Es gab die ebenerdige Hauptwohnung und im Dachgeschoss die Mietwohnung.“ WC und Küche der Hauptwohnung sind teilgefliest mit Fenster zur Straße (südliche Reihe) beziehungsweise zum Garten (nördliche Reihe). Die Fußböden der Wohnräume sind belegt mit dunkelbraunem Linoleum. Neben der sehr kleinen Küche befindet sich das Esszimmer, zwei weitere Zimmer gibt es auf der Südseite.

Im Obergeschoss befindet sich ein WC, eine sehr kleine Küche, ein Minikinderzimmer, und zwei ebenfalls ziemlich kleine Zimmer zum Wohnen und Schlafen. Ein Badezimmer gibt es nicht, gewaschen und gebadet wird in der Waschküche im Untergeschoss. Geheizt wird mit Kohle. Ein großer Fortschritt sind die elektrischen Leitungen sowie fließend kaltes Wasser, das im Boiler warm gemacht wird. „Die einzelnen Häuser hatten alle in gleicher Farbe gestrichene Fensterläden. Ein Rasenstück und eine Hainbuchenhecke säumten die Vorgärten zur Straßenseite hin. Die Hecke wurde stets sauber geschnitten. Wenn ein Eigentümer anfing, seine Hecke zu schneiden, kam gleich der nächste und schnitt ebenfalls“, erzählt Wechsler.

Besucher kommen barfuß Die ersten „Siedler“ müssen anfangs auf Straßenbeleuchtung verzichten, es gibt auch keine befestigte Straße. Bis zum Durchgang zur Bahnhofstraße und der Bushaltestelle gehen die „Pendler“ morgens in Gummistiefeln, stellen sie dann dort ab, um für das letzte Stück die „guten“ Schuhe anzuziehen. Abends auf dem Rückweg stehen die Gummistiefel wieder bereit, die schicken Schuhe landen in der Tasche. Besucher kommen meist barfuß, die hochhackigen Schuhe in der Hand. Auf Nachfrage der Siedler bei der Gemeinde werden ihnen Gehwegplatten und Splitt - soweit beim Bauhof vorrätig und übrig – zur „vorläufigen Befestigung“ der Anwohnerstraße zur Verfügung gestellt, so lautet ein Gemeinderatsbeschluss von 1953. Die Gemeinde beauftragt schließlich die EVS, zwei Lichtmasten aufzustellen.

Hausmusik bei den Wechslers 1957 organisieren sich die „Heuwegler“ im „Siedler- und Kleingärtnerverein Ortsverein Rutesheim“, um die Eigentümer der Siedlungen in wirtschaftlicher und pflegerischer Hinsicht und auch in rechtlichen Angelegenheiten zu beraten und zu unterstützen. Einige Nachbarn treffen sich bei Familie Wechsler im „Stüble“ regelmäßig zur gemeinsamen Hausmusik.

Alles für den täglichen Bedarf Die Nahversorgung ist auf einem guten Weg. Die Bäckerei Maier bringt frische Backwaren. Das Milchauto Milch, Sahne, Käse, Eier. Die Lebensmittelgeschäfte der Familie Ilchmann im Sonnenrain und Familie Schenk Am Heuweg bieten alles für den täglichen Bedarf. Es gibt den Metzger Schiessle, eine Poststelle und auch Bankfilialen. Im Waldeck, im Heuwegstüble oder im Schönblick kann man auch mal auswärts essen gehen. Zum Gottesdienst treffen sich die Heuweg-Siedler zunächst sonntags im Nebenzimmer der Gaststätte Waldeck. 1968 wird die Thomaskirche eingeweiht.

Die Siedler sind weggezogen Die ersten Siedler sind inzwischen alle verstorben. Die Nachfolgegeneration ist größtenteils verzogen. „Von den Siedlern des ersten Bauabschnitts wohnen, soweit mir bekannt ist, nur noch vier der damaligen Kinder am Heuweg“, sagt Waltraud Wechsler.

Nach dem Auszug der ersten Mieter bauten die meisten Häuslebesitzer in die Küche des Obergeschosses ein Badezimmer ein, die Heizung wird auf Öl umgestellt, die Häuser werden modernisiert. Oftmals wird an- oder umgebaut. Und wer heute durch die Siedlung geht, stellt eine umfassende Veränderung fest. „Inzwischen gibt es leider auch keine Geschäfte mehr, die Gasthäuser sind geschlossen. Die Heuwegsiedlung hat sich gewandelt, wie so vieles in den letzten 70 Jahren“, sagt die ehemalige Siedlerin.