Je höher, desto besser - die beiden Freunde Mark und Lukas haben das Roofing für sich entdeckt und erzählen, wie sie dazu gekommen sind und was sie daran reizt.
Es ist Samstagabend, kurz vor 23 Uhr. Im Hintergrund ist das Hupen von Fußballfans zu hören. Mark und Lukas (Namen geändert) stehen vor dem Eingang eines Gebäudes in der Nähe des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Im Schutz der Dunkelheit schleichen sie sich unbemerkt hinein. Im höchsten Stockwerk angelangt, öffnen sie eine Notausgangstür und steigen die letzten steilen Stufen auf das Dach des Gebäudes. Oben angekommen, laufen sie zur Kante und schauen hinunter. Von den Leuten unten nimmt niemand Notiz von den beiden dunkel gekleideten Gestalten. Mark und Lukas hingegen genießen die Aussicht und beobachten das Geschehen unten.
Die beiden 17-Jährigen sind sogenannte „Roofer“. Der Begriff „Roofing“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „Dacheindeckung“ oder „Überdachung“. Was Mark und Lukas machen, hat aber nichts mit dem Dachdeckerhandwerk zu tun, sondern mit einem Klettertrend, der seinen Ursprung in Russland hat. Dabei werden in der Regel besonders hohe Gebäude oder Bauwerke ungesichert und oft illegal erklommen.
Wie kommt man als Jugendlicher auf die Idee, so etwas zu machen? Gibt es keine ungefährlicheren Hobbys? „Es war eher durch Zufall“, sagt Mark und erzählt weiter: „Vor allem während Corona habe ich viel Zeit draußen verbracht und Sport getrieben.“ Eines Tages flog ihm ein Ball auf ein Dach. Er kletterte hinauf, um ihn zu holen, und fand es cool dort. Danach habe er das Dach immer wieder als Ort genutzt, wo er abhängen konnte. Irgendwann zeigte er den Platz seinem Freund Lukas und „seitdem bringt Lukas sehr viele Ideen mit ein, wo man noch überall hoch kann“. „Wir lassen uns aber auch von Videos inspirieren, die wir online sehen. Das ist auch ein Grund, warum wir selbst Videos hochladen“, ergänzt Lukas. Ihre Videos teilen sie auf Instagram unter dem Profilnamen „DontDistribute“.
Es gibt immer einen Weg, in ein Gebäude reinzukommen
Wo sie als nächstes rauf- oder runterklettern wollen, entscheiden die Jungs nicht spontan, sondern planen ihre Aktionen manchmal Tage im Voraus. „Wir laufen oft durch die Straßen und schauen, welche Gebäude uns gefallen und wie leicht man da hochkommt“, erklärt Mark. „Und wenn wir etwas finden, das uns zusagt, schauen wir, ob es Kameras oder Bewegungsmelder gibt oder ob viele Leute da sind“, ergänzt Lukas. Natürlich kommt es auch vor, dass viele Versuche scheitern, aber davon lassen sich die Jungs nicht entmutigen. „Man hat ja trotzdem was gelernt und beim nächsten Mal klappt es vielleicht“, schmunzelt Lukas. Einen Weg rein finden sie in der Regel aber immer. „Es ist schon immer einfacher, als man denkt. Es gibt immer einen Weg, in ein Gebäude reinzukommen – man muss ihn nur finden“, so Lukas.
Wie sie sonst entscheiden, wohin sie als nächstes hinaufgehen wollen? „Grundsätzlich gilt: Je höher, desto besser. Ich persönlich finde es viel schöner, wenn man mitten in der Stadt ist und auf Autos oder Menschen schauen kann“, sagt Lukas. Andererseits müsse es auch nicht immer nach oben gehen. Die beiden sind auch in Stollen oder Bunkern unterwegs.
Mit der Zeit sind sie immer besser geworden und haben auch die Auswahl der Objekte erweitert. Waren es anfangs noch Turnhallendächer, so klettern sie mittlerweile auf viel höhere Gebäude oder in Tunnel und U-Bahnschächte.
Es geht nicht um den Adrenalinkick
Neben der Schule und dem Roofing bleibt den beiden dabei nicht viel mehr Zeit für andere Hobbys. „Wir machen eigentlich beide ziemlich viel Sport. Was man auch braucht, weil man dafür fit sein muss“, so Lukas.
Im Gegensatz zu anderen „Rooftoppern“ geht es den Jungs aber nicht um den Adrenalinkick. „Ich mag einfach die Aussicht, die man hat, wenn man irgendwo oben steht und sich die ganze Stadt von oben anschaut – vor allem bei Nacht ist das echt schön“, sagt Mark. Bei Lukas spielt die Neugier eine Rolle: „Man fragt sich halt immer, was ist da oben, was ist in dem Gebäude oder was ist hinter der Tür? Man hat immer diesen Drang, das herauszufinden“.
Ein Traum der beiden ist es, irgendwann einmal in Frankfurt oder New York auf Dächer zu steigen. „Aber so eine Kathedrale oder ein Dom wäre auch schon schön“, sagt Lukas. Mark würde gerne einmal auf das Ulmer Münster hochsteigen, weil es viele Videos gibt, in denen Leute das versuchen. „Das finde ich sehr spannend“, sagt er.
Schiefgehen kann immer etwas
Höhenangst kennen die beiden 17-Jährigen nicht, sind sich aber der Gefahren durchaus bewusst. „Der Respekt vor der Höhe ist schon da. Ich glaube auch, wenn man keinen Respekt davor hat, dann ist es schon viel gefährlicher, als wenn man vorsichtiger an die Sache herangeht“. Dass auch mal etwas schief gehen kann, ist den Jungs durchaus bewusst. „Manchmal übersieht man eine Kamera oder eine Person, die einen gesehen hat. Natürlich gehen wir auch ein gewisses Risiko ein, hoffen aber, dass nichts passiert“, so Lukas. Angst, erwischt zu werden, hätten sie schon, aber in der Regel suchen sie sich Objekte aus, von denen sie glauben, dass nichts passieren kann. Darüber hinaus achten sie auch darauf, dass es nicht zu gefährlich für sie wird, indem sie zum Beispiel regelmäßig genutzte und stabile Gebäude oder Bauwerke auswählen. Tatsächlich wurden sie auch schon mal von einer Person gesehen. „Das war, als wir aufs Dach der Staatsoper hoch sind“, sagt Lukas. Passiert sei aber zum Glück nichts.
In der Stuttgarter Polizeistatistik wird das Thema Roofing statistisch nicht erfasst. Daher ist auch nicht bekannt, wie viele Jugendliche jährlich illegal auf Gebäude klettern oder sich dabei verletzen.
Eines ist Mark und Lukas aber sehr wichtig und das betonen sie auch: „Wenn wir irgendwo reingehen oder irgendwo hochklettern, achten wir wirklich sehr darauf, dass wir nichts beschädigen, kaputt machen oder irgendwas mitnehmen. Es geht uns wirklich nur um die Aussicht und um das Erlebnis.“