Der Spitzenpolitiker und seine Opfer: Matthias Leja als Agamemnon (hinten) und Sylvana Krappatsch als Gattin und Mutter Klytämnestra (vorne). Foto: Matthias Horn - Matthias Horn

Der antike Tragödienklopper wird in Familienserienformat übertragen, aber bei aller aktuellen Kenntlichkeit bleibt der Schock das Aktuellen aus.

StuttgartIphigenie zickt rum. Fleisch soll sie essen, ein gutes Stück vom Hirsch. Aber der acht- oder neunjährigen Göre schmeckt nicht, dass „Tiere sterben, wenn wir Tiere essen“. Die Veganernummer, vorpubertär empathisch. Elterliche Beschwichtigungs- und Beschönigungsrhetorik hilft da gar nichts. Erst recht nicht, wenn sie so gezielt dämlich auf den Tisch kommt wie bei Robert Icke. Der britische Dramatiker verdirbt seiner schrecklich netten Familie zunächst mal das ritualisierte gemeinsame Abendmahl. Obwohl doch Papi Agamemnon arg gestresst vom politischen Führungsjob heimkommt. Er, der ganz große Entscheider, legt er erst mal ganz entschieden den Hebel um, macht auf läppisches Kindchenschema, dann auf genervte Autorität. Hübsch kenntlich, das alles. Die kleine Iphigenie kann ja nicht ahnen, dass sie demnächst schmerzfrei eingeschläfert wird, damit Menschen sich gegenseitig umbringen können.

Ja, da gilt es noch ganz anderes zu beschwichtigen und zu beschönigen: in dieser schrecklichen Familie, die in Wahrheit eben nur schrecklich ist – aber auch im bühnenschreiberischen Unterfangen, die 2500 Jahre alte „Orestie“ von Aischylos fasslich ins Hier und Heute zu verfrachten. Icke führt selbst Regie in seiner Neubearbeitung, der zweiten Premiere der neuen Stuttgarter Staatsschauspiel-Intendanz Burkhard C. Kosminiskis: nach den vom Intendanten inszenierten „Vögeln“ (siehe oben) ein weiterer Beitrag zum „Beigeschmack von Wahrheit“, den Karl Kraus im Wort Familienbande witterte. Nur ist das im Fall der „Orestie“ untertrieben. Wer sich mit redlicher Mühe durch die 3796 erhaltenen Verse des Originals kämpft, taumelt von den poetischen Hochgebirgen mythischer Sippenverstrickung in die Höllenschlünde schieren Grauens, wo zum Beispiel an ein ganz anderes Mahl als Epizentrum familiärer Selbstauslöschung erinnert wird: Statt Hirsch- gab’s Kinderfleisch, das Vorfahre Atreus dem ahnungslosen Vater Thyestes vorsetzte. Daraufhin werden im Takt der Blutrache Familienmitglieder gemeuchelt, bis Göttin Athene befindet, der Morde seien genug gewechselt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten Einzug, Zivilisation triumphiert über archaisches Killertum – so die übliche Lesart, die von der jüngeren Aischylos-Deutung indes relativiert wird. Icke folgt durchaus diesem State of Art. Orest – Mörder seiner Mutter Klytämnestra wegen deren Mord am Familienvater Agamemnon, der wiederum Tochter Iphigenie getötet hat – wird am Ende nach einem autoritär manipulierten Freispruch nicht in die Zivilisation, sondern in die Ratlosigkeit entlassen. Und der Orakelpriester Kalchas (Paula Skorupa), der Iphigenies Opferung zum Zweck des trojanischen Kriegserfolgs herbeibeschwor, wird bei Icke zum sinistren fundamentalistischen Drahtzieher, der mittels Beweismittelaufnahme – per Display verkündet – eine Art theologischen Thriller der Menschenfeindschaft inszeniert: Die Menschheit ist und bleibt schuldig im Angesicht jener Götter von Zeus über Jehovah bis Odin, die Kalchas eingangs herunterbetet und in der Gerichtsszene wiederholt. Nebst solch religionskritischer Volte fegt Icke mit dem entmythologisierenden Handbesen durchs antike Drama, das sich durch Unglaubwürdigkeit an seiner Verzwergung zum Gegenwartsserienformat rächt. Der – selbstredend präventive – Krieg, den Staatschef Agamemnon plant, findet vorerst nicht statt. Weil eine dieser neuen extremen Wetterlagen den Abmarsch verhindert. Göttliche Zeichen fordern das Iphigenie-Opfer. Kindermord gegen Klimawandel? Ein heutiger „Demokrator“, der seine Diktatur populistisch abnicken lässt und Religion nur benützt, glaubt plötzlich selbst an den Irrsinn und tötet das eigene Töchterlein? Da fallen wir vom Theater-Glauben ab. Was im übertragenen und sehr allgemeinen Sinne stimmig sein mag, wird Humbug in der Konkretion des Fallschicksals, für die Icke das mythisch Allgemeine opfert.

Zwiespältige DNA des abendländischen Zivilisationsprozesses

Das gilt fürs Ganze am Stück: Wenn einen aus der Wucht und der fernen Sprache des Originals so etwas wie die zwiespältige DNA des abendländischen Zivilisationsprozesses mit erschreckender Aktualität anspringt, dann zielt Ickes Aktualisierung nur auf die Benutzeroberfläche. Seine Familienaufstellung bei Agamemnons mit Lebenden und wiedergängerhaften Toten spiegelt Vertrautheiten bis zum Klischee. Orest, von Peer Oscar Musinowski fahrig bis pampig gespielt, wird von einer Therapeutin (Marietta Meguid) einer Zwangsanamnese unterzogen, Sylvana Krappatsch gibt die Klytemnästra viel zu aufgeregt für echtes Entsetzen. Das schrammt – wie vieles – am Gräuelboulevard entlang, erst spät findet die Schauspielerin Nuancen und Formen für eine Mutterrolle, die sich in der Polyphonie der Affekte zersetzt. Michael Stillers fordernder Menelaos und Felix Strobels bürokratischer Talthybios: treffliche Schießbudenfiguren der Macht. Und Matthias Lejas Agamemnon: keineswegs knitterfrei, aber wie glattgebügelt, sobald er mit aasiger Rhetorik in eine Kamera strahlt. Und schwanzgesteuert verlogen, wenn er die traumatisierte Kassandra (Therese Dörr) als Kriegsbeute anschleppt. Angespannt, maskenhaft, fassungslos oder gefasst schneidet Leja die stärksten Mienen ins Gesicht zwischen Macht und Depression: ein herausragendes Schau-Spiel (ebenso die großartige Elke Twiesselmann als markig-steinalte Amme und archaische Furie).

Aber: In kommoder Aktualitäten-Kenntlichkeit bleibt der Erkenntnisschock des Aktuellen aus im säulengesäumten Backsteinhöhlenrund der Bühnenbildnerin Hildegard Bechtler, einem modischen Fabrikloft für die private Zentrale der Macht. Und wenn sich am Ende die Lebenden und die Toten zum Tribunal formieren, die Damen als Anklägerinnen, die Herren als Verteidiger, mündet das Familiendesaster keineswegs in mündige Politik. Das skeptische Finale überspielt, dass eine entscheidende Größe fehlt: das Kollektiv, der Chor der antiken Tragödie.

Die nächsten Vorstellungen: 25. November, 1., 8. und 22. Dezember, 19. Januar.