Mit einer Anzeige, unter anderem in der Stuttgarter Zeitung, weißt die Region Grand Est auf die Bedeutung von Straßburg als Sitz des Europaparlaments hin. Foto: Krohn/Krohn

Der Sitz des Europaparlaments in der Elsass-Metropole wird immer wieder in Frage gestellt. Die Region befürchtet einen Bedeutungsverlust – und startet eine ungewöhnliche Kampagne.

Straßburg - Einmal im Monat startet die große Völkerwanderung. Dann werden in Brüssel viele Tonnen Akten in Metallkisten gepackt und knapp 400 Kilometer in Richtung Straßburg transportiert. Die meisten Abgeordneten des EU-Parlament stöhnen über dieses Ritual, beugen sich dann allerdings den höheren Mächten. Denn in den EU-Verträgen steht geschrieben, dass das Parlament zwölf Mal im Jahr in Straßburg tagen muss.

Abwanderungsgedanken der Parlamentarier

Plötzlich aber macht sich Straßburg Sorgen um den Sitz des Europäischen Parlaments in der Stadt – und das hat auch mit der Corona-Pandemie zu tun. Offensichtlich befürchten die Verantwortlichen in der Region Grand Est und in Straßburg, dass die EU-Abgeordneten ihre Abwanderungsgedanken in Zeiten der Pandemie vorantreiben und Brüssel bald die zentrale Rolle für das EU-Parlament einnehmen könnte. Oder wie Jean Rottner, Präsident der Region Grand Est, es ausdrückt, dass manche versuchen würden, die Regeln des Spiels zu verändern.

In einer halbseitigen Anzeige in mehreren deutschen Regionalzeitungen wird deshalb der Präsident des Europaparlaments in einem offenen Brief aufgefordert, die Renovierung eines großen Plenarsaals in Brüssel zu stoppen. „Das Europäische Parlament verfügt in Straßburg, seinem Sitz, über ein völlig funktionierendes Gebäude, das auch auf künftige Herausforderungen ausgerichtet ist“, ist in der Anzeige zu lesen. Ein Ziel ist es nach Aussagen Rottners, die Diskussion in der Öffentlichkeit über den Stellenwert Straßburgs in Europa anzustoßen.

Wissen, wo die Kirche steht

Gegen die Renovierung ins Feld geführt werden die hohen Kosten für das Projekt von rund 500 Millionen Euro, doch dahinter steckt offensichtlich die Befürchtung, dass das Bauprojekt der Einstieg in den Ausstieg aus Straßburg sein könnte. „Wir haben keine Angst, dass das Parlament abwandern könnte“, unterstreicht Jean Rottner, befürchtet aber auf längere Sicht einen Bedeutungsverlust Straßburgs. Die Stadt sei kein Neben-Standort des Parlaments, sondern dessen eigentlicher Sitz, beharrt er. In dieser Situation sei es an der Zeit gewesen, erklärt der Regionspräsident von Grand Est, alle Beteiligten daran zu erinnern, „wo die Kirche im Dorf steht“.

Allerdings spielt die Corona-Pandemie den Straßburg-Gegnern in die Hände. Seit dem Frühjahr steht das Parlamentsgebäude Louise Weiss in Straßburg leer. Die Abgeordneten meiden den offiziellen Sitz des EU-Parlamentes und die damit zusammenhängenden Fahrten ins Elsass. Die Region war während der ersten Welle der Pandemie über Wochen ein Hotspot mit überdurchschnittlich vielen Infektionen.

Problem mit der Corona-Pandemie

Im Herbst sollten dann die Sitzungswochen des Europäischen Parlamentes wieder in Straßburg stattfinden. Weil aber die Zahlen rund um die Corona-Pandemie insbesondere in Frankreich und Belgien wieder stark angestiegen sind, haben auch diese Sitzungswochen schlussendlich online stattgefunden.

Offensichtlich hegt selbst der französische Präsident Emmanuel Macron die Befürchtung, die Corona-Ausnahme in Sachen Straßburg könnte zur Regel werden. Jüngst machte er sich öffentlich für den Parlamentssitz stark. „Wenn sich das Parlament nur noch in Brüssel trifft, sind wir verloren, denn in zehn Jahren wird dann alles in Brüssel sein. Und in Brüssel werden die Leute nur noch unter sich sprechen. Das ist aber nicht die Idee von Europa.“ Für Macron verkörpert Straßburg die grundsätzliche Idee der europäischen Integration und der Nähe zu den Bürgern. Das Verteilen der Institutionen auf mehrere Länder Europas ist für den französischen Präsidenten in diesem Sinne auch eine Frage der Demokratie.

Ein Umzug ist unwahrscheinlich

Die deutsche EU-Parlamentarierin Evelyne Gebhardt hält einen Umzug des Parlaments nach Brüssel für völlig ausgeschlossen. Zum einen, erklärt sie, stehe es noch in den Sternen, ob und wann der in der Anzeige erwähnte Plenarsaal in Brüssel überhaupt saniert wird. Zum anderen verweist auch sie auf die EU-Verträge. Die Politikerin unterstreicht: „Wir müssen zwölf Mal im Jahr in Straßburg tagen.“ Einer Änderung dieser Regelung müssten alle EU-Staaten zustimmen – also auch Frankreich. „Aber der französische Präsident, der Straßburg als Sitzungsort für das Europäische Parlament aufgeben würde, ist noch nicht geboren“, ist sich Evelyne Gebhardt sicher.