Krankentransporte fahren Patienten außerhalb von Notfalleinsätzen – bei der Abrechnungsoll eine Firma getrickst haben. Foto: Lichtgut/Leif-Hendrik Piechowski

Polizei und Staatsanwaltschaft durchsuchen landesweit Räume eines in der Region ansässigen Krankentransportunternehmens. Zwei Beschuldigte sollen Arztverordnungen gefälscht und mit Desinfektionszuschlägen wegen Corona zu Unrecht Geld kassiert haben.

Stuttgart - Einen Blaulichteinsatz der ungewohnten Art hat am Dienstag ein Krankentransportunternehmen mit Sitz im Großraum Stuttgart erlebt. Normalerweise rücken dessen Fahrzeuge aus, um Dialysepatienten zu transportieren oder Kranke von einer Klinik in die andere zu bringen. Doch diesmal fuhr an diversen Standorten Besuch vor – mit der Aufschrift Polizei. Nun wird das Unternehmen selbst zum Patienten.

Auf Beschluss des Stuttgarter Amtsgerichts haben drei Staatsanwälte und rund 40 Polizeibeamte Wohn- und Geschäftsräume in ganz Baden-Württemberg durchsucht. Betroffen waren Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, die Kreise Esslingen, Göppingen, Villingen-Schwenningen und der Rhein-Neckar-Kreis. Man habe umfassendes Beweismaterial gesichert, das nun ausgewertet werde, so die Ermittler.

Ihre Blicke richten sich vor allem auf den Geschäftsführer des Krankentransportunternehmens sowie den Betriebsleiter einer Niederlassung. Gegen sie wird wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Betrugs und der Urkundenfälschung ermittelt. Sie sollen vereinfacht ausgedrückt im großen Stil Geld mit den Krankenkassen abgerechnet haben, das ihnen nicht zusteht – und zwar vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie. Die beiden Männer befinden sich derzeit auf freiem Fuß.

Infektionsfahrten steigen

Das betroffene Unternehmen fährt Krankentransporte in mehreren Rettungsdienstbereichen des Landes. Manche dieser Einsätze gelten als Infektionsfahrten – nämlich dann, wenn der Patient Tuberkulose oder andere ansteckende Krankheiten hat. Nach Abschluss solcher Transporte müssen die Mitarbeiter eine gründlichere und daher zeitaufwendigere Desinfektion des Fahrzeugs vornehmen. In diesen Fällen kann gegenüber den Krankenkassen als Kostenträgern neben der Transportpauschale auch eine Desinfektionspauschale abgerechnet werden. Ihre Höhe wird zwischen jedem einzelnen Unternehmen und den Kassen ausgehandelt und ist deshalb nicht einheitlich geregelt.

Laut Angaben des Innenministeriums hat sich die Zahl solcher Infektionstransporte zu Corona-Zeiten erheblich gesteigert. Das bestätigen auch Rettungsdienstorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz. „Da hat sich durch Covid-19 schon einiges verändert“, sagt Landessprecher Udo Bangerter. Die Besatzungen seien länger unterwegs und hätten deutlich mehr Aufwand als vor der Pandemie. Die Desinfektion habe massiv an Gewicht gewonnen.

Allerdings mutmaßlich nicht so sehr wie bei dem nun ins Visier der Ermittler geratenen Unternehmen. „Ein Arzt muss in der Regel bescheinigen, dass eine Fahrt ein Infektionstransport ist“, sagt Melanie Rischke, Sprecherin der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. In diesem Fall sei aber nahezu jede Fahrt plötzlich so ausgewiesen gewesen, so dass eine Verfälschung der Dokumente nahe liege. „Der Vorwurf lautet, dass die beiden Beschuldigten unter dem Deckmantel von Corona sich bei jeder Fahrt selbst einen Infektionstransport bescheinigt haben“, sagt sie. Deshalb geht es bei den Ermittlungen auch um Urkundenfälschung.

Krankenkasse hat nachgeprüft

Aufgefallen ist das irgendwann einer Krankenkasse. Dort hat man sich gewundert, warum das Unternehmen eine derart exorbitante Steigerung bei der Desinfektionspauschale aufweist – auch im Vergleich zu Konkurrenten. Denn die Kassen überprüfen regelmäßig die eingegangenen Abrechnungen der Leistungserbringer – auch beim Krankentransport. Gibt es dabei Ungereimtheiten, sind sie verpflichtet, die Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu benachrichtigen. Außerdem müssen sie bei einem Anfangsverdacht die Staatsanwaltschaft informieren. Auch in diesem Fall sind so die Behörden eingeschaltet worden.

Der Schaden, um den es gehen soll, ist immens. Nach ersten Schätzungen der Ermittler beläuft er sich auf über eine Million Euro. Wo das Geld geblieben ist, wird derzeit geklärt. Einfach werden dürfte die Aufklärung indes nicht: Laut Staatsanwaltschaft muss jede einzelne Fahrt überprüft werden. Das betroffene Unternehmen wollte unserer Zeitung gegenüber zunächst keine Stellungnahme zu den Vorwürfen abgeben.

Genehmigung könnte zurückgenommen werden

Die strafrechtliche Verfolgung ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. „Nach dem Rettungsdienstgesetz bedarf es zum Betrieb von Krankentransporten einer Genehmigung“ sagt Renato Gigliotti vom Innenministerium. Deren Erteilung setze unter anderem voraus, dass keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich eine Unzuverlässigkeit des Unternehmers oder des Geschäftsführers ergibt. Bei der Antragstellung muss zum Beispiel ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt werden. „Treten solche Tatsachen später zutage, entscheidet die kommunale Genehmigungsbehörde über die Konsequenzen. Diese können bis zu einem Verlust der Genehmigung reichen“, so Gigliotti.

Im Extremfall könnte dem Unternehmen bei einer Verurteilung der beiden Beschuldigten also drohen, ganz vom Markt zu verschwinden.