Unter einer Brücke suchen im israelischen Tel Aviv Menschen Schutz vor anfliegenden Raketen, die im palästinensischen Gazastreifen abgefeuert wurden. Foto: AFP/GIL COHEN-MAGEN

Im Israel-Konflikt werden Opfer und Täter gleichgesetzt – und oft auch miteinander verwechselt. Der Rechtsstaat und Politik müssen deshalb bei antisemitischen Protesten in Deutschland klare Kante zeigen, kommentiert Franz Feyder.

Stuttgart - Sie wollen einmal in Echtzeit und ohne Risiko nachempfinden, wie sich Leben in Israel anfühlt? Dann laden Sie die App „Red Alert“ auf ihr Smartphone. Sie sendet Warntöne, wenn Raketen auf Israel abgefeuert werden. Sie gibt den Ort an, an dem die Geschosse höchst wahrscheinlich einschlagen, sollten sie nicht abgefangen werden. 365 Tage im Jahr. In diesen Tagen gibt es Phasen, da schrillt das Handy nur noch. In der Zeit vor der neuerlichen Eskalation bimmelte das Handy auch schon Alarm, weil im Gazastreifen abgefeuerte Raketen und Mörsergranaten im Anflug auf Ashkelon, Mavkiim und Yad Mordechai waren – um nur einen Bruchteil der Ziele aufzuzählen.

Das Schrillen „Red Alerts“ wirft Fragen auf: Wie kommen Tausende von Raketen in den Gazastreifen, der wirtschaftlich ums Überleben kämpft? Prekäre Gesamtwirtschaftlage, Arbeitslosenquote 48,6 Prozent. Im Jahr 2020 stehen dem 133 abgefeuerte Raketen gegenüber, 643 in 2019. Aktuell kommen die Israelis mit dem Zählen nicht mehr nach. Zu den 52 bis zum 9. Mai abgefeuerten Geschossen kommen bis zum Donnerstagabend deutlich mehr als 1000 hinzu. Stückpreis der im Gazastreifen produzierten, ungenauen Geschosse der Qassam-Baureihe nach westlichen Schätzungen: 2200 – 2500 Euro. Etwa 2,5 Millionen Euro kostet die Terroristen vor allem der auch in Europa als Terrororganisation eingestuften Hamas allein der aktuelle Schlag gegen Israel mindestens.

Anders ausgedrückt: Jede Rakete kostet im Gazastreifen Schulen Strom, Krankenhäusern Medikamente und einem aufzubauenden Rechtsstaat Richter, Staatsanwälte, Polizisten. Statt ungezählte Tunnel und Boote zu nutzen, um Lebensmittel, Konsumgüter und medizinische Geräte nach Gaza zu bringen, werden damit Sprengstoff, Raketenbauteile und Waffen für die Hamas in den Streifen gebracht. Ob die milliardenschwere Hilfe der Europäischen Union und zusätzlich einzelner Mitgliedsstaaten wirklich in humanitäre Projekte oder in die Taschen der Terroristen fließt – wer kann das schon mit Sicherheit sagen?

Strategisches Ziel von Terrorismus ist es, Macht zu übernehmen oder zu erhalten. Lösungen bietet Terrorismus nie. Das erfordert ein Umdenken auch in der deutschen Diplomatie: Luftangriffe können die Hamas und ihre Kumpane schwächen – vernichten müssen die Palästinenser sie selbst. Wirtschaftshilfen durch EU und Deutschland müssen deshalb daran geknüpft werden, ob aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel gefeuert werden. Jede einzelne muss dazu führen, Hilfsgelder zu reduzieren oder zu streichen.

Jedem, der jetzt gegen Israel wettert, muss klar sein: Durch die für die jetzige Eskalation zum Anlass genommene Zwangsräumung im Jerusalemer Stadtteil Sheihk Jarrah sollen Israelis die Häuser zurückbekommen, aus denen ihre Familien 1948/49 vertrieben wurden. Oft sind Argumente nur dann zu verstehen, wenn man weiß, wo sie in der Jahrhunderte währenden Konfliktgeschichte ihren Anfang nehmen. Eins findet sich dort immer: Eine Vertreibung von Juden aus Palästina, der aus dem 8. Jahrhundert vor Christus stammenden, frühhebräischen Bezeichnung der Region.

In Deutschland sind wir wieder einmal damit beschäftigt, Opfer und Täter zu verwechseln oder sie zumindest gleichzusetzen, wie es Außenminister Heiko Maas (SPD) gerade tat. Das ist unerträglich. Auch, weil sich hierzulande ein hoch explosives, antisemitisches Gemisch bildet: Neonazis Seite an Seite mit radikalen Palästinensern, Linken und Verschwörungsanhängern. Auf deutschen Straßen werden palästinensische und türkische Fahnen zu antisemitischen Parolen geschwenkt, die durchaus mit denen der Nazi-Zeit vergleichbar sind. Gegen diese Umtriebe muss der deutsche Rechtsstaat klare Kante zeigen, die Politik allemal. Es ist 12.56 Uhr, 21 Sekunden – mein Handy schrillt. Raketen im Anflug auf Ashkelon, südliches Industriegebiet – und neun weiteren Wohnorten.

franz.feyder@stuttgarter-nachrichten.de