Die 86-jährige Elena steht vor den Trümmern ihres Zuhauses. Foto: Till Mayer

Die russische Armee schickt vermehrt Raketen und Kamikazedrohnen auf zivile Ziele in der Ukraine. Die Menschen dort sollen offenbar mürbe gemacht werden. Aber ein Besuch bei Ausgebombten in Mykolajiw zeigt, dass gerade die alten Menschen die Hoffnung nicht verlieren.

Der Raketeneinschlag kam in den frühen Morgenstunden. Als alle im Haus schliefen. Ein gewaltiger Schlag, ein Feuerball. Die Explosion brachte den Mittelteil des Gebäudes zum Einsturz. Fünf Stockwerke klappten einfach zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zimmerwände stürzten ein, tonnenschwerer Schutt begrub die Menschen unter sich. Nun klafft eine Lücke in dem Wohnblock aus Sowjetzeiten. Ein Bogen spannt sich noch über die Zerstörung. Auf dem Trümmerberg darunter steht verloren ein Feuerwehrmann. Er dirigiert eine Baggerschaufel, die sich langsam durch den Schuttberg gräbt.

Unter den Trümmern wird der Leichnam seines Schwagers vermutet

Ein Kran hebt eine Betonplatte in die Luft. Abseits, hinter der Absperrung, steht ein Mann in Uniform und blickt mit versteinertem Gesicht auf das Geschehen. Unter den Trümmern wird der Leichnam seines Schwagers vermutet. Im Gras, neben verstreuten Ziegeln, liegt eine tote Katze. Auch ihr Besitzer zählt zu den sieben Toten des russischen Angriffs auf Mykolajiw.

Raketeneinschläge sind zum Alltag in der Ukraine geworden. Die russische Armee hat das von ukrainischen Truppen zurückeroberte Gebiet um Cherson nach Angaben der regionalen Militärverwaltung seit Samstag mehr als 50 Mal beschossen.

In Mykolajiw kam der Angriff, als die russischen Truppen aus Cherson abzogen. Wie so oft reagiert Putins Armee auf Misserfolge auf dem Schlachtfeld mit gezieltem Terror gegen die Zivilbevölkerung. Das sind Wohnhäuser oder die Infrastruktur zur Versorgung der Menschen mit Energie und sauberem Wasser. Dank der aus dem Westen gelieferten Flugabwehrsysteme können immer mehr Raketen abgefangen werden. Doch das Flugabwehrnetz ist noch nicht dicht genug.

In Mykolajiw folgt nach dem Angriff eine traurige Routine

Die Helfer haben sich auf den Wahnsinn eingestellt. In Mykolajiw folgt nach dem Angriff eine traurige Routine. Die Feuerwehr rückt an. Das Rote Kreuz, der Zivilschutz, Krankenwagen. Zelte werden am Rand der Unglücksstelle aufgestellt. In einem gibt es direkte Informationen und Zuspruch für die Betroffenen und Angehörigen. Die Helfer befragen Nachbarn und Überlebende, wer sich im zerstörten Teil des Hauses befunden hat. Weiter entfernt sägen Handwerker schon Pressspanplatten für die gesprungenen Fenster. Die Druckwelle hat auch in den Nachbargebäuden die Fenster bersten lassen. Jetzt wird es drinnen erst einmal dunkel sein, wenn die Platten davorgenagelt werden. Aber es gibt keine Alternative zum Provisorium. Die Feuerwehrleute und Rotkreuzhelfer sind zu diesem Zeitpunkt schon seit Stunden im Einsatz. Es sind oft müde Gesichter, die unter den Schutzhelmen hervorblicken.

Die alten Menschen, die in wenigen Kilometer Entfernung in einem anderen Block wohnten, haben Mitte Oktober Ähnliches erlebt. Tatjana ist mit ihren 61 Jahren die Jüngste unter ihnen, die für den Journalisten aus Deutschland extra zu der Ruine gekommen sind. Vor Kurzem war hier ihr Zuhause. Jetzt sind sie bei Angehörigen und in der Nachbarschaft untergekommen. Tatjana ist zwar die Jüngste, aber sie lebt am längsten im Haus. Seit dem Tag, als es fertiggestellt wurde. „Das war im August 1971. Es war ein ganz heißer Tag. Ich war so glücklich, dass wir in dieses schöne und neue Haus ziehen konnten“, erinnert sich die 61-Jährige an Tage ihrer Kindheit.

„Was haben wir den Russen getan?“

„Das war zu Sowjetzeiten schon ein sehr, sehr schönes und modernes Haus“, pflichtet Mykola bei. Mit seinen 74 Jahren arbeitet er immer noch in einem Betrieb. „Da brauchen sie gerade jetzt meine Erfahrung, und ich darf darüber auch nicht mehr erzählen“, sagt der ältere Mann nicht ohne Stolz. Dann ist da die 77-jährige Alla, die traurig über die Nachbarn berichtet, die bei dem Angriff ums Leben kamen. „Zehn Menschen, darunter ein Junge“, sagt sie leise. Dann blickt sie auf den Boden. „Die Russen wollen unser Leben zerstören, uns mürbe machen. Was haben wir ihnen getan? Nichts. Sie sollen unser Land in Ruhe lassen“, fordert Juliana. Die 71-Jährige arbeitete als Ingenieurin für Schiffsbau.

Zu Sowjetzeiten hat sie einmal ein Forschungsschiff mit entwickelt. „Darauf bin ich schon stolz. Es war auf vielen Meeren unterwegs. Hier in Mykolajiw sind gute Schiffsbauer zu finden. Die Ukraine hat viele kluge Köpfe zu bieten“, fügt sie hinzu.„Wir waren schon eine sehr gute Hausgemeinschaft. Nein, wir sind es noch“, meint Juliana. Die Senioren rundherum nicken zustimmend. Und dann erzählt sie von der großen Cremetorte, die es für die 86-jährige Elena im Mai zum Geburtstag gab. „Da standen die Tische, und wir saßen alle darum herum. Gemeinsam haben wir gefeiert. Es war so schön. Den Krieg, den haben wir einfach kurz vergessen“, erzählt sie. Es klingt wie eine Geschichte aus einer anderen Zeit. Jetzt liegen auf dem Asphalt Trümmerbrocken. Das Gebäude ist in diesem Abschnitt eine Ruine. Die Außenmauern stehen zum Großteil noch, doch dahinter gibt es in den Fensterhöhlen die herabgestürzten Zimmerdecken zu sehen. Das Treppenhaus ist stückweise in sich zusammengebrochen. Ein Dach hat das Haus nicht mehr.

Die kleine Gedankenreise in bessere Tage ist abrupt beendet

„Das war eine russische Luftabwehrrakete, die hier eingeschlagen ist“, erklärt Mykola und zieht ein Stück Aluminium aus dem Schutt: „Hier sehen Sie, das ist ein Teil der Rakete.“ Die kleine Gedankenreise in bessere Tage ist abrupt beendet.

Elena ist mit 86 Jahren die älteste der Gruppe. Trotz hohen Alters leuchten ihre Augen lebhaft, als sie erzählt. Davon, wie sie den Zweiten Weltkrieg überlebte, Stalinismus und Hungerjahre. „Jetzt, im hohen Alter, wieder ein Krieg“, sagt sie kopfschüttelnd. Sie ist die Einzige, die noch im Haus bleiben konnte.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagt sie und führt zu ihrer Wohnung im ersten Stock. „Entschuldigen Sie, mein Mann schläft. Es geht ihm nicht so gut“, flüstert sie. Der 81-Jährige wacht dann doch gleich aus seinem Nachmittagsschläfchen auf. „Ich habe einen Glassplitter ins Bein abbekommen, als das Fenster zerbarst“, sagt der alte Mann und deutet auf die Sperrholzplatten, die in die Fensterrahmen genagelt sind. „Weil ich Diabetes habe, will es nicht so recht verheilen“, erklärt er, während er sich ächzend aufrichtet. Trotzdem schleppt er sich mit seiner Frau täglich zur Wasserausgabestelle, um Trinkwasser zu holen.

Aus der Leitung in der Wohnung kommt seit April nur Flusswasser. „Eine stinkende Brühe“, seufzt der alte Mann. „Aber das wird sich bald ändern. Jetzt, wo Cherson erobert ist und die Front weit genug weg, können die Leitungen vor Mykolajiw wieder alle repariert werden und die Quellen gutes Wasser liefern. Wenn die Russen nicht wieder alles kaputt bombardieren“, führt der 81-Jährige aus.

Nur stundenweise Strom und Wasser

„Gas haben wir noch keines. Es soll bald kommen. Deswegen heizen wir mit Strom“, fügt er hinzu. Doch der kann ausfallen. Davor hat die ganze Hausgemeinschaft Angst: Vor weiteren Treffern, die die Infrastruktur der Energieversorgung treffen. Darunter leiden die Menschen in der ganzen Ukraine, oft gibt es flächendeckend nur stundenweise Strom und Wasser. „Furchtbar ist das. Aber unsere Elektriker arbeiten tapfer. Uns bekommt niemand klein“, sagt Elena. Trotz aller Furcht, dass sie und ihre Freunde noch einmal einen Raketeneinschlag erleben müssen.