Ein Polizist steht in Solingen vor dem Haus, in dem fünf Kinder tot aufgefunden wurden. Als Täterin steht die Mutter in Verdacht. Foto: AP/Martin Meissner

Fünf Kinder in Solingen sind tot. Getötet wohl von ihrer Mutter. Was treibt Menschen zu einer derartigen Tat? Der Psychologe Lorenz Böllinger vermutet, dass die 27-Jährige in „absoluter Verzweiflung“ gehandelt hat.

Stuttgart - Drei kleine Mädchen und zwei Jungen sind tot. Die 27-jährige Mutter und mutmaßliche Täterin ist schwer verletzt. Sie hatte sich unter einen Zug geworfen. Die Nachbarn in Solingen sind fassungslos. Wie konnte es zu so einer Tat kommen? Wir haben uns mit dem Bremer Rechtswissenschaftler und Psychologen Lorenz Böllinger über die Tat von Solingen unterhalten.

Herr Böllinger, was treibt Eltern dazu, ihre Kinder zu töten, ehe sie sich selbst das Leben nehmen?

Zunächst ist zu sagen, dass derartige Taten sehr selten vorkommen. Die Schätzungen variieren, doch nach meiner Kenntnis sind etwa ein Prozent aller Suizide in Deutschland so genannte erweiterte Suizide, bei denen zur Selbsttötung entschlossene Menschen ihre Partner, Kinder oder andere Angehörige töten, bevor sie selbst Hand an sich legen. Die Motive können unterschiedlichster Art sein. Aber meist handelt es sich um einen Prozess, der sich nach und nach zuspitzt, etwa durch Familien- und Gesellschaftseinflüsse. Am Ende steht absolute Verzweiflung – und letztlich ein Zusammenbruch der Persönlichkeit.

So auch im konkreten Fall von Solingen?

Ja, das vermute ich. Ich kann mir vorstellen, dass die Mutter sich völlig überfordert gefühlt hat. Ein derartiger Zusammenbruch kann zum Beispiel dadurch ausgelöst werden, dass man verlassen wird. Und dann nicht weiter weiß. Ich vermute auch, dass bei ihr eine frühkindliche Störung vorliegt, dass es schon in der Kindheit ein Ohnmachtsgefühl gab, etwa aus Mangel an Zuwendung und Anerkennung oder aus Angst, verlassen zu werden. Das könnte auch erklären, dass die Frau im Alter von 27 Jahren schon sechs Kinder hatte.

„Fünf tote Kinder in Solingen: Was versteht man unter erweitertem Suizid?“

In welcher Notlage ist ein Mensch, der eine solche Tat begeht?

Das Gefühl der Überforderung muss bei der Mutter aus Solingen gigantisch gewesen sein. Kinder sind einer Mutter oder einem Vater das Liebste. Aber ab einem gewissen Alter haben sie ihren eigenen Willen, funktionieren nicht mehr, wie man das gerne hätte und werden schwieriger. Daraus kann sich Frust entwickeln – auch Wut und sogar Hass. Man muss sich bewusst sein, dass es derartige Gefühle nun mal gibt – und sich dann mit anderen darüber austauschen. Um zu lernen, damit umzugehen. Das hat in diesem Fall wohl zu wenig oder gar nicht stattgefunden.

Können auch finanzielle Nöte ein Grund sein?

Derartige Taten ziehen sich durch alle Gesellschaftsschichten. Es ist so, dass sich bei den Täterinnen und Tätern eine zunehmend psychotische Wahrnehmung der Umwelt entwickelt. Sie leiden an einer extremen Persönlichkeitsstörung. Und das Ganze endet schließlich mit einer massiven Aggressionshandlung.

Steckt manchmal auch die Absicht dahinter, den Partner oder ehemaligen Partner zu treffen, sich an ihm zu rächen?

Ja, manchmal sind solche Taten eine Mischung aus Verzweiflung, Angst vor dem Alleinsein und Rache, weil man verlassen wurde. Das ist häufig bei Männern die Motivation. Sie wollen mit der Tötung der Kinder die Ex-Partnerin verletzen. Überhaupt werden öfter Männer zu Tätern.

Gibt es Warnsignale?

Ja. Aber es ist paradox: Je verwahrloster und gestörter ein Mensch oder eine Familie ist, desto stärker wird versucht, die Fassade zu wahren. Im Fall von Solingen hat sich die Frau möglicherweise durch ihre psychische Störung abgeschottet, sodass die Umwelt gar nicht gemerkt hat, was los war.

Kann es sein, dass durch die Corona-Pandemie die Not der Mutter nicht rechtzeitig entdeckt wurde?

Die diffuse Bedrohung durch Corona kann sicher Angstgefühle verstärken. Meiner Meinung nach ist das in diesem Fall – wenn überhaupt – aber nur ein ganz kleiner Faktor. Schwerer wiegt, dass wir in einer zunehmend individualisierten Welt leben. Ich beobachte eine narzisstische Entwicklung. Die Menschen werden selbstbezogener und nehmen die Probleme anderer seltener wahr.

Bietet die Gesellschaft zu wenig Auffangmöglichkeiten?

Die zuständigen Behörden sind zwar unterbesetzt. Aber grundsätzlich haben wir hierzulande gute Voraussetzungen und ein funktionierendes System. Auch was die Genehmigung und Finanzierung von Therapien durch die Krankenkassen betrifft. Es gilt: Wenn man Probleme wahrnimmt, sollte man so früh wie möglich eingreifen. Indem man etwa das Jugendamt oder den Sozialpsychiatrischen Dienst informiert.

Manchmal überleben Kinder die Tat, so auch eines der sechs Geschwister in Solingen. Kann man ein derartiges Erlebnis jemals verarbeiten?

Der Junge ist schwer traumatisiert. Deshalb rate ich den Angehörigen, ihn so schnell wie möglich behandeln zu lassen. Ein Vergessen ist sicher nicht möglich. Aber ich würde optimistisch bleiben und sagen: Es ist sehr schwierig, aber möglich, ein derartiges Trauma zu verarbeiten.

Zur Person

Lorenz Böllinger, 1944 in Bad Friedrichshall geboren, ist emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bremen. Der Jurist, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker war zunächst als Rechtsanwalt tätig. Später lehrte er an den Fachhochschulen Dortmund und Frankfurt am Main. 1982 wurde er Professor an der Universität Bremen. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen bei Sexual-, Gewalt- und Drogendelikten.

Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 sowie unter https://ts-im-internet.de erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de