Die Staatsanwaltschaft fordert zwölf Jahre Haft für einen Ex-Stasi-Mitarbeiter. (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa/Britta Pedersen

Ein Ex-Stasi-Mitarbeiter soll vor rund 50 Jahren am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Berlin einen Mann hinterrücks erschossen haben. Doch ist ihm die Tat tatsächlich nachzuweisen?

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft haben sich die Vorwürfe bestätigt: Rund 50 Jahre nach einem tödlichen Schuss am früheren DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße fordert die Anklage zwölf Jahre Haft für einen Ex-Stasi-Mitarbeiter.

Der 80-Jährige aus Leipzig habe sich des heimtückischen Mordes schuldig gemacht, sagte Staatsanwältin Henrike Hillmann. Die Verteidigerin des deutschen Angeklagten forderte einen Freispruch. Es sei nicht erwiesen, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei.

Urteilsverkündung am 14. Oktober

Seit mehr als sechs Monaten läuft der Prozess vor dem Landgericht, er wird wegen seiner historischen Bedeutung aufgezeichnet. Der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka hatte bereits zu Beginn deutlich gemacht, wo die Schwierigkeit liegt: „Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen.“ Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien. Am 14. Oktober soll das Urteil gesprochen werden.

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft erschoss der Angeklagte, damals Oberleutnant in einer Operativgruppe des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, am 29. März 1974 einen 38 Jahre alten Mann hinterrücks an dem belebtesten Grenzübergang zwischen Ost und West. Der Angeklagte sei mit der „Unschädlichmachung“ des Polen beauftragt worden, nachdem dieser mit einer Bombendrohung seine Ausreise habe erzwingen wollen, so die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft.

Auszeichnung nach tödlichem Schuss

Den Auftrag habe er aufgrund seiner „Fähigkeiten und Regimetreue“ erhalten, erklärte Hillmann. Später sei er dafür von der Stasi mit dem „Kampforden in Bronze“ ausgezeichnet worden. Beleg dafür ist aus Sicht der Staatsanwältin ein vom damaligen Staatssicherheits-Minister Erich Mielke unterzeichneter Befehl. In diesem wurden insgesamt zwölf MfS-Mitarbeiter genannt, die im Kontext mit der Tötung ausgezeichnet werden sollten.

Das Schriftstück aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv hat eine zentrale Bedeutung in dem Verfahren. Erst im Jahr 2016 lieferte es einen entscheidenden Hinweis zur Identität des Schützen in dem Fall, in dem die Ermittlungen über viele Jahre nicht vorankamen. Die Staatsanwaltschaft ging zunächst jedoch von einem Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, weil die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre.

Inzwischen sieht die Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Hintergrund für die neue Bewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf polnischer Seite.

Verteidigung: Nicht klar, dass der Angeklagte der Schütze war

Die Verteidigerin des Ex-Stasi-Mitarbeiters mahnte, Recherchen von Historikern reichten nicht aus für eine rechtliche Bewertung. „Historiker sprechen nicht Recht im Namen des Volkes“, betonte Andrea Liebscher. Das Gericht habe sich nach Kräften bemüht, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln den Fall aufzuklären.

„Ich denke, dass man alles, was nach 50 Jahren noch herauszufinden war, auch herausgefunden hat.“ Danach sei nicht ausreichend sichergestellt, dass ihr Mandant der Schütze gewesen sei. Zudem sei sie überzeugt, dass es sich um Totschlag und nicht Mord handele. Der getötete Pole habe angesichts der von ihm zuvor inszenierten Bombendrohung nicht arglos sein können.

Angeklagter schweigt im Prozess

„Ich möchte dazu keine weiteren Angaben machen“, sagte der Angeklagte selbst zum Ende des Prozesses. Er hatte sich auch im Verfahren nicht geäußert. Seine Verteidigerin hatte zu Beginn erklärt, ihr Mandant bestreite die Vorwürfe.

Die Anwälte der Nebenkläger - eine Tochter und zwei Söhne sowie eine Schwester des getöteten Polen - sind von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Czeslaw Kukuczaka sei zum Tatzeitpunkt arglos gewesen im Sinne des Rechts. „Seine Liquidierung war Mord, nicht Totschlag“, betonte Hans-Jürgen Förster.

Angehörige dankbar für Prozess

Er beantragte kein konkretes Strafmaß im Namen seiner Mandantin. Die Tochter, die zur Zeit der Ermordung ihres Vaters gerade 18 Jahre gewesen sei, sei heute „allein an der Schuldfeststellung durch ein demokratisch legitimiertes staatliches Gericht interessiert, nicht an Strafausspruch oder gar -vollstreckung“, betonte Förster.

Sein polnischer Kollege Rajmund Niwinski empfand den Strafantrag der Staatsanwaltschaft sogar als zu hoch. „Er hat letztlich einen Befehl ausgeübt.“ Man müsse auch das Lebensalter des Angeklagten beachten. Seinen Mandanten sei es nie um ein bestimmtes Strafmaß oder Rache gegangen. „Man wollte einfach nur ein Urteil“, so Niwinski. „Die Nebenkläger sind dem Gericht, dem deutschen Staat dankbar, dass es dieses Verfahren gab.“