Der Angeklagte sagt, er fürchtete um seine Sicherheit. Sein Gegenüber kam mit lebensbedrohlichen Verletzungen ins Krankenhaus. Foto: imago/Ulrich Roth

Ein 62-Jähriger Ukrainer verletzt einen Landsmann lebensgefährlich mit dem Messer. Jetzt steht er vor Gericht.

Was genau ist in der Nacht zum 29. Oktober 2022 in einem Hotel in Ditzingen passiert, in dem zahlreiche Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht waren? Das versucht derzeit die 19. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart unter dem Vorsitz von Richter Norbert Winkelmann nachzuvollziehen. Auf der Anklagebank sitzt ein 62-jähriger Ukrainer, dem die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorwirft.

Notoperation noch in der Nacht

Nach ihren Ermittlungen kam es gegen 2 Uhr morgens zu einem verbalen Streit zwischen dem Angeklagten und zwei weiteren Flüchtlingen, die auf Balkonen übereinander rauchten. Als die Männer in die vierte Etage zu dem Angeklagten gekommen seien, habe dieser auf einen der beiden mit einem Küchenmesser eingestochen und diesen dabei lebensgefährlich verletzt. Laut Anklage hat er von dem am Boden liegenden Mann nur abgelassen, weil eine Nachbarin die Tür geöffnet und die Polizei gerufen habe. Der Mann erlitt schwerste Verletzungen im Brustbereich und wurde nach einer Notversorgung im Schockraum des Krankenhauses Ludwigsburg noch in der gleichen Nacht in Stuttgart notoperiert.

Nach der Einlassung des 62-Jährigen haben sich die Ereignisse in der Tatnacht anders dargestellt. Er sei nach dem Besuch bei Bekannten, wo man zu dritt eine Flasche Wodka getrunken habe, in sein Zimmer zurückgekommen und habe auf dem Balkon geraucht. Die beiden Männer ein Stockwerk höher hätten herablassend über ihn als „der Typ vom Land“ geredet und ihn beleidigt. Es sei zu gegenseitigen Beschimpfungen gekommen, dann habe er sich in sein Zimmer zurückgezogen, um zu Ende zu rauchen.

Angeklagter beteuert, keine Tötungsabsicht gehabt zu haben

Plötzlich habe er laute Stimmen vor und Faustschläge an seiner Tür gehört. „Ich hatte Angst, dass sie sich gleich auf mich stürzen und mich verprügeln“, erklärte der 62-Jährige. Um die beiden kräftigen Männer abzuschrecken, habe er ein Küchenmesser ergriffen und die Tür geöffnet. Einer der Männer habe ihn geschubst, er habe befürchtet, sie würden sich in sein Zimmer drängen wollen. Dann habe er ohne zu zielen in Richtung des Mannes gestochen, der einen Arm erhoben hatte und anschließend die Tür wieder geschlossen. Er habe gehört, dass eine Nachbarin die Polizei gerufen habe und zur Beruhigung einen Whiskey getrunken.

Er habe nicht vorgehabt, den Mann zu töten und erinnere sich nur an einen Stich. „Ich dachte aber, wenn ich mich nicht wehre, holen die ihre ganzen Bekannten und dann geht es erst richtig los“, führte der 62-Jährige weiter aus. Im Nachhinein habe er mit sich gehadert, dass er so reagiert habe.

Es sei möglich, dass bei dem Streit auch noch ein anderer Aspekt eine Rolle gespielt habe: Er habe zwei Bekannten der Männer, die noch keine staatliche Unterstützung bekommen hatten, Geld und Zigaretten im Wert von rund 25 Euro geliehen. Als die beiden Frauen ihm das Geld nicht zurückgegeben hätten, habe er sie auf dem Hotelflur immer mal wieder daran erinnert und dabei eine Gabel oder ein Messer aus der Kantine in der Hand gehabt. Der Prozess wird fortgesetzt.