Emotionale Demo der ukrainischen Community. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Mit verzweifelten Appellen fordern die Teilnehmer der Ukraine-Demo in Stuttgart Freiheit für spurlos verschleppte Zivilisten und Soldaten.

Weit weg ist der Krieg in der Ukraine, und wie der Aufbruch zu einem Trauermarsch wirkte vor dem Start auf dem Wilhelmsplatz die Versammlung beim Blick in die von Sorge, Leid und Verzweiflung gezeichneten Gesichter: vorwiegend Frauen und Kinder, die vor der russischen Armee geflüchtet sind. Doch dann rückte das von Gewalt und Terror verursachte Elend so nah heran wie vielleicht noch nie bei diesen fast im Wochenturnus organisierten Demos der Ukraine-Community. Die Namen, Gesichter und Schicksale verschleppter Zivilisten standen an diesem Wochenende im Mittelpunkt der Demonstration. Angesichts der Wucht der Emotionen war beim Zug durch die City selbst am Straßenrand und in den gut besuchten Cafés die Beklemmung deutlich zu spüren.

Kein Lebenszeichen vom Ehemann und Vater

Die Schlusskundgebung auf dem Schlossplatz eröffnete Julia, der mit ihren zwei Kindern die Flucht aus Mariupol gelungen ist. Ihr Mann aber, ein Grenzsoldat, wurde gefangenen genommen, und seit fünf Monaten ringt Julia vergeblich um Kontakt zu ihrem Ehemann, ohne jegliche Nachricht von dessen Schicksal. „Was tut der Aggressor-Staat unserem Land an? Wann können die Kinder ihren Vater wiedersehen, wann kann ich meinen Beschützer wieder in die Arme schließen?“ fragte sie mit vehementer Tapferkeit und fügte hinzu: „Warum foltern und töten sie unsere Soldaten? Warum bringen sie Zivilisten um?“ Julias Antwort: „Weil wir bis zum Letzten die Freiheit der Ukraine verteidigen.“ Sie schloss mit dem Appell: „Helfen Sie uns, unsere Verteidiger nach Hause zu bringen und ihr Leben zu retten.“

„Fast sprachlos“ fand sich die ukrainische Journalistin Tefiana Kavunenko nach dieser unter die Haut gehenden Rede wieder, bevor sie wie Julia die Achtung der Genfer Konvention einforderte, die Schonung von Zivilisten und humane Behandlung von Gefangenen verlangt: „Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, an Staats- und Regierungschefs auf die massenhafte Entführung von Aktivisten in der Ukraine zu reagieren, um gemäß Völkerrecht den Zugang zu Gefangenen zu gewährleisten.“ Zuvor hatte sie an sieben Aktivisten erinnert, die verschleppt wurden und von denen jede Spur fehlt. Hinter ihr hoben Frauen, teils am ganzen Körper mit „blutigen Händen“ versehen, Plakate mit Fotos und Namen der Opfer hoch: zwei Bürgermeister, Journalisten und die Bloggerin und Rot Kreuz-Helferin Iryna Horobtsova.

Verwundeter Soldat muss zurück an die Front

„Wo ist Marjana Checheluk?“ Diesen Hilferuf der Eltern machte Natalia Häusler am Rande bekannt. Mit ihrer Schwester Alina, 13, war Marjana, 22, in Mariupol bei der Suche nach Schutz im Astov-Stahlwerk von den Eltern getrennt worden. Ein „humanitärer Korridor“ erwies sich als Falle, die Beiden wurden von den Russen verschleppt. Das Mädchen kam später frei, „aber Marjana haben sie behalten, ohne jeden Kontakt bis heute“, stellt Häussler fest – und kämpft an „gegen das Schauderhafte, das die Vorstellung daran bedeutet“. Sie sagt: „Aber das ist der Alltag der Ukrainer in diesem Krieg.“

Überraschend dann der ungeplante Auftritt von Jaroslav, der zufällig von der Demo erfahren hatte. Der ukrainische Soldat kam vor sechs Wochen zur Behandlung seiner Kriegsverwundung nach Deutschland, wo er Frau und Kinder wiedersah. Ende der Woche muss er zurück an die Front. Mit schmetternder Wucht erinnerte er an „das ukrainische Blut, das jeden Tag vergossen wird“. Er dankte „allen dafür, dass Sie hier stehen. Diese Unterstützung, diese zweite Front gibt uns Kraft. Wir werden siegen!“ Der Soldat, mit seinem kleinen Sohn an der Seite, schloss: „Wir brauchen Freiheit. Wir wollen, dass alle in Europa friedlich leben können. Dafür kämpfen wir.“