Für sie soll’s das rote Rosenblutbad regnen: Rachael Wilson als Charlotte und Arturo Chacón-Cruz als Werther Foto: Philip Frowein

Felix Rothenhäusler inszeniert Jules Massenets Musikdrama  nach Goethe an der Stuttgarter Oper.

Es war einmal der Film „American Beauty“. Dessen berühmtestes Bild zeigt das jugendliche Objekt später männlicher Begierde im Rosenblütenblätterbad. Über ein paar Fitness-Übungen in der Midlife Crisis kommt die unmögliche Liebe nicht hinaus, aber die Leiden des alternden Werther  enden tödlich wie jene des Jungen. Auch wenn sich der  Herr der Frühlingsgefühle im Herbst  nicht  selbst die Kugel gibt. Der Regisseur Felix Rothenhäusler zitiert  im Stuttgarter Opernhaus jenes Rosenbild pünktlich zum Finale letale: als Blutbad,  das sich der junge Werther  mit den Waffen seines Rivalen Albert selbst eingelassen hat. Überraschend kommt es nicht, das Bild, denn  Arturo Chacón-Cruz als Werther stand bereits vier Akte lang mit Rosenkavalierstrauß herum – wie abholend und nicht bestellt. Erwartungsgemäß muss es da irgendwann rote Rosen regnen, und die Assoziation mit der Filmszene stiftet die Bedeutung: Hier gilt’s der blutroten Ekstase des gesellschaftlichen Regelbruchs.

Dummerweise hat Jules Massenets 1892 uraufgeführte „Werther“-Oper noch eine andere Pointe: Werther begehrt Charlotte als „Engel der Pflicht“, und zu dieser  Pflicht zählt ihre Bindung an den ungeliebten Albert. Die Pflicht ist nicht nur Hindernis, sondern Stimulans des Begehrens, ja mit ihm identisch. Folglich bleibt dem Begehren nur der Salto mortale in den Tod, sobald Charlotte pflichtwidrig ihre Liebe zu Werther offenbart (und die ist – anders als bei Goethe – bei Massenet und seinem Librettisten-Trio wahrlich nicht nur freundschaftlich).

Kreisverkehr der Geschlechter

Diese destruktive Fatalität des Erotischen – eine Obsession des 19. Jahrhunderts unter dem langen Schatten der Spießbürgermoral – verwandelt Werther in einen umgekehrten Don Juan: Während dieser Frauenbestände durchcheckt auf der Suche nach einem Ideal, das er nie findet, hat Werther sein Ideal sofort gefunden, das er als unerreichbar definieren muss. Während der frustrierte Erotomane das Liebesleben der anderen zerstört, muss Leidensmann Werther sein eigenes Leben zerstören, um seine Liebe zu retten. Wenn Max Frisch dem Don Juan eine „Liebe zur Geometrie“ attestiert, vollstreckt Rothenhäusler bei Werther den Hass auf die Geometrie. Was eigentlich eine  interessante Idee wäre, vereinfachte  sie der Regisseur nicht (in Tateinheit mit Bühnenbildnerin Katharina Pia Schütz) zur faulen Inszenierungsausrede. Und die sieht so aus: eine milchweiß leuchtende Kreisfläche als Schauplatz; davor das Parkett, in dessen vorderen Reihen Sängerinnen und Sänger unauffällig Platz nehmen und auffällig die Mund-Nase-Maske abnehmen; dahinter  das Orchester auf offener Bühne statt im Graben. Und nur Werther steht rosenstraußreckend gleich eingangs im Rund, wo später eine Art Kreisverkehr der Geschlechter stattfindet: Werther hinter Charlotte, Charlotte hinter Werther, gelegentlich Albert auf Einfädelspur. Verkehrsregeln halt. Abstand, sonst kracht’s. Das tut’s am Ende, wenn sich Werther und Charlotte – Corona hin, Ehestand her – für eine Plötzlichkeitsewigkeit in den Armen liegen: hier nur ein Billig-Schock, ein kalkulierter Dammbruch nach der aufgestauten, lange weilenden Ereignislosigkeit.  

Der Kinderchor mit seinem  Weihnachtslied (zunächst absichtlich gebrüllt –  Regelverstoß!) erhebt sich aus dem Parkett, ebenso die Damen und Herren in den Soloparts. Versteht sich, dass Werther, der stets gottesgläubige, also fundamentalistische Regelbrecher, zuerst die Kindlein zu sich kommen lässt. Dass er am Ende des zweiten Akts  in völlig analoger Szenenregie abermals umringt wird, nun aber von erwachsenem Statistenpersonal, ist immerhin ein Fingerzeig: Aus Spiel wird Ernst. Werther äußert Suizidgedanken, ein Selbstmordattentäter ausschließlich in eigener Sache. 

Doch sonst? Klaffen in der Bühnenwirklichkeit dieser – nüchtern betrachtet – halbszenischen Aufführung Regie und Konzept gähnend weit auseinander. Die theatralische „Beeindruckungsmaschinerie“ (ein Wort  René Polleschs) bloß legen? Eine „Vereinbarung“ (so das Programmheft) nicht nur wie eh und je im „Werther“-Plot, sondern gleich auch noch in der Theaterkommunikation aufkündigen? Strikte Konzentration auf die emotionalen Konstellationen, die in zwanghafter Geometrie auf der Spielfläche erscheinen, als wäre sie der Spiegel eines trüben Firmaments? Alles ort- und zeit- und milieulos: Was in Massenets Oper als miefige und muffige Gegenwelt der Werther’schen Überschreitungsversuche in Anschlag gebracht wird, ist bei Rothenhäusler samt den entsprechenden Figuren ratzeputz weggestrichen. All diese  Artistik des Weglassens schlägt in Bildverlust  um. Es bleibt der leere Rahmen, ein Passepartout, in den jenes herbeizitierte Rosenblutbad passt, aber keine szenische Argumentation. Die Regie stellt Befunde aus ohne Symptome: Behauptungen. Egal ob das Ganze auf Liebespathologie, Gesellschaftskritik oder Regelbruch rauswill.

Catwalk für Business-Kollektion

Ein bisschen funktioniert es dank Elke von Sivers’ Kostümen als Catwalk für eine Business-Kollektion. Charlottes jüngere Schwester Sophie in giftgrünem Kostüm mit wattierten Schultern, dazu fettgoldene Klunker im Ohr und Aktenköfferchen an der Hand samt kokett abgespreiztem kleinen Finger: Schon im Stück für Positive Thinking zuständig, wird hier eine Karrierekarikatur draus (Aoife Gibney singt mit mild leuchtendem statt soubrettenglitzerndem Sopran). Ähnlich plakativ prangt hinten „Security“ auf dem schwarzen Blouson des Amtmanns (Shigeo Ishino mit brüsker Autorität). Dass Charlotte ganz ähnliche hochgeschlossene Kluft trägt wie ihr Vater, nur in Weiß und mit durchscheinendem Tüll-und-Tränen-Brautrock, ist wieder so ein Fingerzeig: Nichts als ein Schwarz-Weiß-Wahrnehmungsunterschied liegt zwischen strengem Papa und pflichtschuldiger Tochter. Bei der überragenden Rachael Wilson wird sie zum Epizentrum der emotionalen Erschütterungen in dieser daran überreichen Oper. Fülle des Wohlklangs in der mittleren Lage rüstet die Sängerin bestens für die Mezzo-Partie, mühelos kraftvoll strahlt sie in Sopranweiß, gewinnt dann an Farbe und Finesse. Spätestens ab der großen Szene im dritten Akt gibt sie alles an nuancierter Formung des Melos, Präzision des Ausdrucks, lodernder Emphase bis zum Außer-sich-Sein auf dem gefährlichen Grat zwischen Lust und Angst. Ohne  erregende Piani, ohne die schlichte Wahrheit der Empfindung in „Va! Laisse couler mes larmes“ zu vergessen. 

Arturo Chacón-Cruz, steigerungsfähig nach anfangs recht flackernden Höhen, singt einen belcantistischen Werther, wobei sein tenoraler Hochofen in der Überhitzung schon mal etwas matten Schmelz gießt. Gibt sich aber wieder, und dann bürgt nicht nur Lautstärke, sondern Espressivo für Leidenschaft. Von der Regie wird Chacón-Cruz  ziemlich allein gelassen.  Albert wiederum muss dauergrimmige Miene ziehen, ein eindimensionaler Kotzbrocken-Verschnitt im blauen Führungskräfte-Anzug, unterm Jackett ein T-Shirt wie das Fell eines bläulichen Raubtiers. Pawel Konik singt entsprechend mit mächtigem, aber auch grobem Bariton.

Bis ins Feinste erleuchtet aber die Musik dieser Oper, die wie eine Klangskulptur der Gefühle aus glühendem, schmelzenden Marmor komponiert und doch bis in die zartesten Verästelungen  modelliert erscheint. Marc Piollet leitet das Staatsorchester an zu farb- und gefühlsechter Sinnlichkeit, vom sanften Rausch tiefer Flötentöne bis zu den erregtesten, aber niemals bloß lärmenden Ausbrüchen. Die exakte Balance von Rhythmus und Timbre zeichnet Piollets Interpretation aus, aber auch sein sensibles Gespür für die harmonisch-melodische Atmosphäre, die Auflockerung der wuchernden „Tristan“-Chromatik durch die stille Einfalt und edle Größe einer nicht nur diatonischen, sondern noch spannungsloseren modalen Tendenz. Fürwahr erlesen.

Weitere Vorstellungen am 13., 15. und 18. Juli.