Siegerin Justine Triet (re.) feiert mit Schauspielerin Jane Fonda ihren Preis. Foto: AFP/VALERY HACHE

Am Ende des Festivals sind die Filme ausgezeichnet worden, die auch das Publikum begeisterten: „Anatomie d’une chute“ und „The Zone of Interest“ – beide mit der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller.

Dass am Ende eines Filmfestivals genau die Werke von der Jury ausgezeichnet werden, die auch Publikum und Presse begeistern, kommt selten vor, doch in Cannes war in diesem Jahr genau das der Fall. Justine Triets „Anatomie d’une chute“ und Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ – beide mit der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller in der Hauptrolle – waren bis zum Schluss höher gehandelt worden als die übrigen Filme und machten bei der Preisverleihung am vergangenen Samstag tatsächlich die beiden wichtigsten Auszeichnungen unter sich aus. Wenn auch vielleicht in einer anderen Reihenfolge als erwartet.

Als erst dritte Frau in der Festivalgeschichte durfte Justine Triet aus den Händen von Jane Fonda die Goldene Palme entgegennehmen, nach Jane Campion für „Das Piano“ und zuletzt vor zwei Jahren Julia Ducournau für „Titane“. Letztere saß in diesem Jahr unter anderem neben den US-Stars Brie Larson und Paul Dano oder dem Vorsitzenden Ruben Östlund in der Jury, die einmal mehr bewies, dass Filmschaffende nicht nur jene Art von Kino mögen, das sie selbst auf die Leinwand bringen. Von den satirisch-plakativen Filmen Östlunds ist Triets Arbeit jedenfalls weit entfernt: Ihr eindringliches Prozess- und Beziehungsdrama „Anatomie d’une chute“, in dem sich eine Schriftstellerin nach dem Fenstersturz ihres Mannes plötzlich als Mordverdächtige vor Gericht wiederfindet, ist ein subtiles Spiel mit Wahrheit und Wahrnehmung, das auf den breiten Pinselstrich bewusst verzichtet.

Kälte der Beobachtung

Dass am Ende die Überraschung groß war, dass Triet die Goldene Palme und Jonathan Glazer nur den Grand Prix der Jury erhielt, dürfte mehrere Gründe haben. Natürlich kommt „The Zone of Interest“, basierend auf einem Roman des gerade verstorbenen Martin Amis, thematisch wuchtiger daher, schließlich geht es hier um den Holocaust. Gleichzeitig ist „The Zone of Interest“ noch viel mehr als Triets Film, der einen Großteil seiner Wirkung der die komplette Geschichte dominierenden Ausnahmeleistung Hüllers verdankt, vor allem eine eindrucksvolle Regieleistung. Denn so bemerkenswert die Geschichte des Auswitzkommandanten Höss und seiner Ehefrau ist, die direkt ans KZ-Geländer angrenzend ein idyllisches Familienleben führen, und so stark Hüller und Christian Friedel das spielen, ist es am Ende doch vor allem die Art und Weise, wie der britische Regisseur das in Szene setzt, was seinen Film so außergewöhnlich macht. Die Kälte der Beobachtung, der Einsatz von Musik und Ton, der nicht allen gefallende Schluss in der heutigen Gedenkstätte – mit all diesen Entscheidungen stach Glazer aus dem Wettbewerb deutlich hervor und hätte die Goldene Palme verdient gehabt.

Viel Gutes, wenig Aufregendes

Insgesamt gab es aber an den vergebenen Preisen wenig auszusetzen. Mit „Fallen Leaves“ von Aki Kaurismäki (Jury-Preis) und Hirokazu Koreedas „Monster“ (Drehbuch-Preis) wurden zwei weitere hoch gehandelte Filme geehrt. Dass „Perfect Days“ von Wim Wenders in Gestalt seines Hauptdarstellers Kōji Yakusho geehrt wurde, ist ebenso begrüßenswert wie die Auszeichnung der Besten Hauptdarstellerin für die Türkin Merve Dizdar in „About Dry Grasses“ von Nuri Bilge Ceylan oder der Regiepreis für den aus Vietnam stammenden Franzosen Tràn Anh Hùng und seinen Gourmetfilm „The Pot auf feu“. Aller verdienter Preise zum Trotz lässt sich mit Blick auf die vergangenen zwei Wochen doch festhalten, dass Cannes ein bisschen mehr frischer Wind guttun würde. Zum zweiten Mal in Folge gab es einen Wettbewerb zu sehen, der zwar viel Gutes, aber wenig Aufregendes zu bieten hatte. Festivalleiter Thierry Frémaux verlässt sich weitestgehend darauf, bei den immer gleichen alten Bekannten anzuklopfen, deren Arbeiten dann fast schon automatisch programmiert werden. Und allzu euro- und anglozentrisch ist seine Auswahl ohnehin meistens, vor allem wenn man bedenkt, dass selbst Ramata-Toulaye Sy – einzige Regiedebütantin in diesem Jahr und bei den Preisen leider übergangen – in „Banel & Adama“ zwar eine Geschichte aus der senegalesischen Heimat ihrer Eltern erzählt, aber eben doch in Frankreich geboren und dort an der Elite-Filmschule La fémis ausgebildet wurde. Dass Frémaux etwas ändern wird, scheint unwahrscheinlich, nicht zuletzt, wenn man im Kopf hat, wie bockig er auch in diesem Jahr wieder auf alle Pressefragen reagierte, die sich um Sexismus in der Filmbranche und Diversität drehten. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.