Rudolf Vayhinger und Jürgen Schindler wohnen schon ihr Leben lang in dem Ludwigsburger Stadtteil, dem ein großes Festwochenende bevor steht. Wie war das Leben dort früher?
Rudolf Vayhinger ist 88 Jahre alt. Und genau so lang lebt er schon in Poppenweiler, dem Ludwigsburger Stadtteil, der hoch über dem Neckar thront. Und der an diesem Wochenende groß sein 900-jähriges Bestehen feiert und damit viel älter als Ludwigsburg selbst ist. Jürgen Schindler ist 30 Jahre jünger als Vayhinger, aber auch er ist Poppenweilerer oder vielmehr „Poppenweilermer“ mit Leib und Seele. Zwei Generationen also, die sich an Vieles erinnern.
Als Vayhinger noch jung war, war Poppenweiler noch das, was man sich unter einem Dorf vorstellt. Zwar gab es seit Anfang des 20. Jahrhunderts einen Wasseranschluss in den Gebäuden – vorher hatte man aus einem der Brunnen geschöpft –, aber eine Kanalisation gab es nicht. „Der Regen lief einfach die Kandel runter, für das Abwasser aus den Häusern gab es Gruben, die man meistens selbst leeren musste“, erinnert sich der 1935 Geborene. Das änderte sich erst in den 1950er-Jahren.
Der Frondienst der bäuerlichen Bevölkerung
Waren die Kandel einmal verstopft, mussten die Bauern ran. Das war ihr Frondienst. Was man sonst nur aus dem Mittelalter kennt, war in Poppenweiler gang und gäbe. „Die Bauern hatten kein Geld, um die Steuern zu bezahlen, also haben sie stattdessen gearbeitet“, erklärt Vayhinger, der damals der sogenannte Fronmeister war. Auch die Zahlung einer Gebühr für die Feuerwehr konnte man umgehen, wenn man dort beitrat. Das war auch der Grund, warum Vayhinger, der heute der Alterswehr angehört, vor 70 Jahren Mitglied wurde.
Weil es früher auch noch nicht in jedem Haus ein Bad gab, ging man samstags ins warme Backhaus. Vorne wurde gebacken, hinten standen zwei Badewannen, für die man eine Karte kaufen und so blitzsauber in den Sonntag starten konnte.
Das Wohnzimmer wird zur Besenwirtschaft
Früher, so erinnert sich der 88-Jährige, der bis zum Jahr 2004 mehrere Wochen aus seinem Wohnzimmer eine Besenwirtschaft gemacht hatte, habe in Poppenweiler praktisch jeder eine Landwirtschaft betrieben – meist mit Kühen und einem Stück Acker. Für die Kriegsflüchtlinge, die nach 1945 gekommen seien, sei ein Garten im Ried angelegt worden, damit sie sich ein Stück weit selbst versorgen konnten, weiß Schindler, der heute im Ludwigsburger Rathaus arbeitet, aus Erzählungen seiner Mutter.
Wer als Landwirt etwas abzugeben hatte, erinnert sich Rudolf Vayhinger, sei zu Fuß auf den Markt nach Ludwigsburg gegangen – fast acht Kilometer beträgt die Strecke. „Viele trugen dazu auf dem Kopf eine Art Korb, in dem sie Eier transportierten.“ Manche hätten aber auch ein Handwägele gehabt.
Als Jürgen Schindler ein Kind war, gab es schon deutlich weniger Bauern – die Statistik weist für das Jahr 1970 noch 87 Betriebe der Land- und Forstwirtschaft aus –, aber er erinnert sich noch gut daran, dass er auch mit der Milchkanne zum Bauern gegangen ist. Überhaupt habe man sich früher in Poppenweiler mit allem versorgen können, ohne nach Ludwigsburg oder Marbach fahren zu müssen. Es gab mehrere Bäcker und Metzger, Tante-Emma-Läden, Elektriker, Installateure, eine Drogerie, einen Blumenladen, sogar einen Küfer. Neuigkeiten wurden vom Dorfbüttel ausgeschellt. Das Telefon hielt nach 1960 nur zögernd Einzug. Der Anschluss der Metzgerei Wolf wurde nicht nur vom Nachbarhaus geteilt, sondern als erstes Telefon in der Straße auch bei Notfällen von den Nachbarn genutzt.
Denn auch tragische Ereignisse gab es in dem dörflichen Idyll. So konnte man im Neckar zwar schwimmen und im Winter darauf Schlittschuh fahren, aber es seien auch manche wegen der Nähe des Wehrs ertrunken, weiß Schindler.
Soldaten kentern in einem überfüllten Boot
An ein besonders tragisches Ereignis erinnert sich Vayhinger. Als Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs den Neckar in einem überfüllten Boot überqueren wollten, sei es kurz vor dem anderen Ufer gekentert. Französische Kriegsgefangene, die im Weinberg arbeiteten, hätten bei der Rettung geholfen und dafür nach Hause fahren dürfen.
Bei Hochwasser verhalf der Neckar aber auch zu leckerem Fisch. „Wo heute die Landstraße ist, war früher ein gepflasterter Feldweg und eine mit Weiden bepflanzte Böschung. Wenn der Weg überflutet war, konnte man dort mit einem Netz Fische rausholen“, erinnert sich Vayhinger. Und an Weihnachten gab’s bei den meisten Stallhase. „Praktisch jeder hat welche gehalten“, weiß Schindler noch.
Seit Poppenweiler 1975 ein Stadtteil von Ludwigsburg wurde, ist es viel größer geworden. Seinen dörflichen Charakter mit dem sozialen Zusammenhalt durch viele Vereine hat es behalten, dennoch sei es kein Dorf mehr, betont Schindler. „Auch wenn manche alten Poppenweilermer sich abgehängt fühlen, die Stadt hat hier viel investiert.“