In Polen ist die neue Regierung seit einem halben Jahr im Amt. Vieles soll anders werden als unter dem PiS-Regime – doch es gibt auch Gemeinsamkeiten mit den Vorgängern.
Polen hat rund 37 Millionen Einwohner – und 18 Millionen offene Gerichtsverfahren. Das sei eines der offensichtlichsten Zeichen dafür, dass die Wende zwar eingeleitet, aber noch lange nicht vollzogen sei, sagt Malgorzata Szulenka von der Helsinki-Stiftung in Warschau. Bis Rechtssuchende in der polnischen Hauptstadt gehört werden, dauere es derzeit mindestens ein Jahr. „Nicht bis zum Urteil, sondern bis das Gericht die Akte zum ersten Mal in die Hand nimmt“, sagt Szulenka.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist nicht so einfach, zumindest dann nicht, wenn der Wunsch besteht, dies mit rechtsstaatlichen Mitteln zu machen. Die neue Regierung unter Donald Tusk, die im Oktober 2023 gewählt wurde und im Dezember 2023 ihre Arbeit aufnahm, steht in vielen Bereichen vor einem Scherbenhaufen. Die Justizreform der Vorgängerregierung hat Polen ein ums andere Mal derbe Kritik eingebracht – von Demokraten im Land, von Nachbarn, von der Europäischen Union. Die EU hat inzwischen ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen gestoppt, weil sich die neue Regierung wieder klar zu demokratischen Grundsätzen bekennt.
Vetorecht des Präsidenten
Eine der zentralen Änderungen bei der so genannten Justizreform bestand darin, den ehemals unabhängigen Landesjustizrat, zuständig für die Richterernennung, unter die Kontrolle des Parlaments zu bringen. Rund 2400 Richter sind unter der PiS-Regierung zwischen 2015 und 2023 eingestellt worden. Manche sind völlig unverdächtig, bei anderen liegt die Vermutung nahe, es könne sich um politische Gefälligkeiten handeln. Das gilt es nun auseinanderzuklamüsern. „Dieser Prozess ist ein rechtliches, soziales und gesellschaftliches Problem“, sagt Malgorzata Szulenka. Und bei weitem nicht das einzige. Damit der politisierte Justizrat nicht beteiligt werden muss, werden derzeit gar keine Richter mehr eingestellt. Für die Verfahrensdauer ist das natürlich nicht förderlich.
Der Versuch, das Gremium rechtsstaatlich aufzulösen oder in seine ursprüngliche Form zu transferieren, scheitert an der polnischen Verfassung. Gegen neue Gesetze hat der Staatspräsident ein Vetorecht, und Andrzej Duda von der PiS macht davon Gebrauch. Nun könnte zwar auch der Präsident wieder mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit vom Parlament überstimmt werden – aber diese Mehrheit hat die Regierung nicht. „Wir hoffen auf nächstes Jahr“, sagt Dariusz Mazur, Staatssekretär im Justizministerium. Dann stehen in Polen Präsidentschaftswahlen an.
Hoffen auf das nächste Jahr
2025 – das ist derzeit das Datum der Hoffnung in Polen. Wohin man auch hört, die aktuelle Blockade durch den Präsidenten lähmt das Land, nicht nur in der Justiz. 2025 soll sie dann endlich beendet werden. Doch das es so kommt, ist noch keinesfalls sicher. Zum einen wegen der Kandidaten. Wer für die Pis ins Präsidentenrennen geht, ist noch unklar. Im Regierungsblock dürfte es erneut der Bürgermeister von Warschau, Rafal Trzaskowski, versuchen. Zum anderen wegen der Stimmung im Land. Ob bei der Präsidentenwahl noch der gleiche Wechselwunsch vorherrscht wie bei den Parlamentswahlen im letzten Herbst, ist offen.
„Ein Jahr bis zu den Wahlen ist lang“, sagt ein Regierungsvertreter. Und das Drei-Parteien-Bündnis ist in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung. Es wird nicht immer den Präsidenten brauchen, um zu blockieren. Wenn es nicht läuft, wie von den Menschen erhofft, kann derzeit niemand vorher sagen, ob die Regierung oder der Präsident dafür die Schuld in die Schuhe geschoben bekommt. Bei den Europawahlen gab es jedenfalls schon einmal einen Warnschuss für die aktuelle Regierung – der Vorsprung gegenüber der PiS schmolz dahin, vor allem weil die kleineren Koalitionspartner an Stimmen eingebüßt haben.
Einigkeit beim Thema Grenzschutz
In einem Punkt sind sich die polnischen Parteien jedoch weitgehend einig – sowohl die regierenden, als auch die nun oppositionelle PiS: Polens Grenzen müssen besser geschützt werden. An der Grenze zwischen Polen und Belarus hat das von der Vorgängerregierung eingeführte Sperrgebiet wieder Bestand, Nichtregierungsorganisationen berichten von Pusbacks und bei Umfragen haben sich 86 Prozent der Polen dafür ausgesprochen, gegen gewalttätige Migranten auch Schusswaffen einzusetzen. Im Augenblick sind an der rund 400 Kilometer langen Grenze rund 2000 Grenzschützer, 6000 Soldaten und 400 Polizisten im Einsatz. Es sollen mehr werden. Einziger Unterschied zu Pis-Zeiten: die neue Regierung verkauft ihre Maßnahmen deutlich humaner. Von einem „Pushback mit Verbandskasten“ sprechen Insider der Szenerie.