Von 2012 bis 2017 war Joachim Gauck Bundespräsident – und begegnete Wladimir Putin. Foto: imago/R.P./Rolf Poss /imago-images.de

Ex-Bundespräsident und Pfarrer Joachim Gauck findet bei Markus Lanz den Pazifismus gerade unpassend. Und lobt Robert Habeck über den Klee – als politisches Leitmodell.

Ja, auch er war überrascht gewesen. Ex-Bundespräsident Joachim Gauck war einer der frühen Mahner gewesen vor dem russischen Präsidenten, aber auch er räumte am Mittwoch in der ZDF-Talkrunde von Markus Lanz ein: „Ich hatte ein klares Bild von Putin, aber dass er es so weit treiben würde und seinen imperialen Traum umsetzt – das hat mich erstaunt.“ Die Wegstrecke sei aber vorgezeichnet gewesen, im grausamen Tschetschenien-Krieg, im Georgienkrieg und auf der Krim: „Das passt alles zusammen“, meinte Gauck.

Ohne Geheimdienst KGB – nur noch Kriminelle?

Der parteilose Theologe aus Ostdeutschland, Mitglied im Neuen Forum und von 2012 bis 2017 Bundespräsident, gab interessante Einblicke in sein Denken. Zum Beispiel sagte er über die Rolle der Geheimdienste und die Tatsache, dass offenbar 70 Prozent der Putin-Vertrauten KGB-Leute seien, einen bemerkenswerten Satz: Er habe, als es 1989/1990 um die Auflösung der Stasi ging, überlegt, ob denn die Duma in Russland ähnliches machen solle, den Geheimdienst auflösen und damit – angesichts des Verschwindens der kommunistischen Partei – den kriminellen Milieus die Gesellschaft überlassen solle. Wohl eher nicht.

Moderator und Gast auf einer Wellenlänge

Markus Lanz hatte zuvor den kritischen Philosophen Richard David Precht zu Gast gehabt, der ein gewisses Verständnis für den offenen Brief von deutschen Intellektuellen zugunsten eines Waffenstillstands geäußert und damit den Moderator erzürnt hatte. Mit Gauck nun schwamm Lanz so auf einer Wellenlänge, dass ein Streitgespräch nicht zustande kam, es war eher ein Interview ohne die für Lanz üblichen kritische Fragen. Er sei „dezidiert anderer Meinung als Precht“, bekundete Gauck jedenfalls. Mit ihrem offenen Brief maßten sich die Autoren an, der Ukraine zu sagen, was sie als Opfer zu tun habe, es fehle „die Perspektive der Opfer“. Bevor es Verhandlungen gebe, müsse man dem Überfallenen erst einmal aufhelfen: „Ein Verzicht auf Waffenlieferungen begünstigt doch den Aggressor.“

Soldat Lanz dachte ans Weglaufen

Der Ukraine-Krieg hat offenbar auch Markus Lanz persönlich verändert, denn er, der gebürtige Südtiroler, schilderte, dass er bei seinem Dienst im italienischen Militär früher weniger ans Schießen als ans Weglaufen gedacht habe. Das sei nun anders. Ob er, der evangelische Theologe, denn zur Waffe greifen und Schießen würde fragte Lanz seinen Gast: „Ich würde es tun“, antwortetet Gauck. Ein pazifistischer Ansatz würde in der jetzigen Situation einer Kapitulation vor dem Bösen, vor dem Unmenschlichen und den Gewissenlosen nahekommen. „Es ist ein Verrat an unserer auf Freiheit basierenden Wertebasis.“ Auch das linke Gerede von der Zulassung von Einflusssphären, die man Staaten wie Russland zubilligen müsse, sei verfehlt, es degradiere kleinere Länder wie Estland, Lettland, Litauen oder die Moldau zur „verfügbaren Verhandlungsmasse“.

Der Glanz des Fürsten steht über allem

„Lassen wir das zu, können wir uns das Völkerrecht sonst wo hinstecken.“ Einige Nationen – auch China – beriefen sich auf ihre Stärke und definierten sich als „große Sache“, die über dem Völkerrecht und den Freiheiten des einzelnen stehe. Das aber sei ein Rückfall in Zeiten, wie Europa sie auch unter der Feudalherrschaft und dem Absolutismus gekannt habe und der „Glanz des Fürsten“ über allem gestanden habe.

„Russenpanzer“ gegen die Wiedervereinigung

Zu Russland hat Gauck ein besonderes Verhältnis, sein Vater war dorthin deportiert worden, kam aber „ohne Hass“ wieder zurück. Gauck erinnerte daran, dass es die deutsche Wiedervereinigung „ohne die Russen“ vielleicht schon 1954 gegeben hätte, denn die hätten die Aufständischen vom 17. Juni 1953 in der DDR ja auch auf den Fahnen gehabt, bevor der Aufstand von „Russenpanzern“ niedergeschlagen wurde. Einen Teil der Moskau-Freundlichkeit bei einer „Minderheit der Ossis“ führt Gauck immer noch auf gewisse Ängste zurück, da sei die Sorge, „dass die uns wieder auf die Kappe kommen“. Dass die Rechtsaußenparteien ebenfalls Moskau hofieren, das erklärt Gauck damit, dass deren eigentlicher Feind „das liberale Denken und die offene Gesellschaft“seien.

Düstere Prophezeiung von 2014

Als einer der ersten deutschen Politiker hatte Gauck nach der Krim-Annexion als Bundespräsident erklärt, dass die Partnerschaft mit dem Westen von Russland „aufgekündigt“ worden sei und „territoriale Zugeständnisse nur den Appetit des Aggressors vergrößern“. Er sollte Recht behalten mit der düsteren Prophezeiung. Bei Lanz bemerkte Gauck, dass er seine Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz von 2014 eigentlich als für noch wichtiger erachtet: Da hatte er gesagt, dass es neben aufrichtigen Pazifisten auch jene gebe, die die deutsche historische Schuld benutzten, um dahinter Weltabgewandheit oder Bequemlichkeit zu verstecken. Im Verständnis des Historikers Heinrich August Winckler sei das eine Haltung, die Deutschland ein „Recht auf Wegsehen“ zubillige. Aber es gehöre ins „Reich des Wunschdenkens“, dass sich damit Frieden erhalten lasse. Im übrigen könnten auch „innovative Politprozesse altern“, etwa der vom SPD-Politiker Egon Bahr einst geprägte „Wandel durch Annäherung“.

Putin bei Gauck: Man hat viel gelächelt

Putin hatte Bundespräsident Gauck 2012 einmal bei einem Berlin-Besuch aufgesucht. „Ja, er war da. Wir haben viel gelächelt“, erinnert sich Gauck. Aber er habe nicht so getan, als wisse er nicht, wer ihn da besuche. Und er habe daraufhingewiesen, wo beide denn 20 Jahre zuvor gewesen seien: Putin KGB-Mann, Gauck Pastor – beide in der DDR. Immer noch ist Gauck davon überzeugt, dass Putin als „Homo Sowjetcus“ die Lehren von Lenin verinnerlicht habe: Einmal an der Macht, dürfe man sie nicht mehr abgeben. Man müsse ein Reich schaffen, in der es keine kritische Öffentlichkeit gebe und ein System, in dem sich die Angst verbreite, einen Angstapparat. Wie Kanzlerin Angela Merkel mit Putin umgegangen sei, wollte Lanz wissen, Joachim Gauck antwortete: „Sie wußte, dass er log.“ Aber eine Regierungschefin könne das Wort „Lügner“ ebenso wenig öffentlich über einen anderen sagen, wie, dass er ein Killer sei.

Habeck kann gut Ziele vermitteln

Befragt nach der heutigen Bundesregierung äußerte sich Gauck beeindruckt von der Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): „Das werde ich ihm nicht vergessen.“ Seine große Bewunderung aber gilt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Politiker hätten ja Ziele und Inhalte, und vertrauten darauf, dass „die Medien das verklickern“. Bei Habeck sei das aber anders, der schaffe es bestens zu vermitteln, „was wir glauben und was wir für richtig halten“. Er könne sich vorstellen, dass Habeck mit seiner Art „für eine Reihe von Frauen und Männern zum Leitmodell wird“.

„Eine Wohlstandslücke überleben wir“

Am Ende gefragt, ob es zum „Herbst des Verzichts“ wegen des Ukraine-Krieges kommen werde in Deutschland, sagte Gauck, er glaube nicht, dass die Leute hierzulande auf die Straße gehen werden. „Wir können die Zähne zusammenbeißen, wenn wir damit anderen Menschen helfen können.“ Man werde „eine Wohlstandslücke überleben“. Im übrigen lebe man in einem Sozialstaat und das aktuelle Regierungshandeln lasse erkennen, dass die sozial schlechter Gestellten geschützt werden sollen.