Ein Sieg des Rassemblement National sei nicht nur eine Gefahr für die Demokratie des Landes, sondern auch eine Bedrohung für ganz Europa, sind sich viele Beobachter einig.
In Brüssel herrscht dröhnendes Schweigen. Noch sei nichts geklärt, heißt es aus dem Umfeld von Kommission und Rat der Europäischen Union – verwiesen wird auf die zweite Runde der Wahlen in Frankreich. Offensichtlich schwingt in der Union die Hoffnung mit, dass die Brandmauer gegen den rechtsextremen Rassemblement National wirkt und die Partei nicht die von vielen befürchtete absolute Mehrheit im Parlament erringt. Um den Sieg rechtspopulistischer Kandidaten in der Stichwahl in ihrem Abstimmungskreis zu verhindern, haben sich in Frankreich bereits fast 200 Kandidaten zu einem taktischen Rückzug entschlossen. Zu ihnen zählen mehrheitlich Kandidaten des links-grünen Wahlbündnisses Neue Volksfront.
Große Sorge im Europaparlament
Während das offizielle Brüssel abwartet, melden sich die Abgeordneten des Europaparlaments umso lauter zu Wort. Die Bewertungen eines möglichen Triumphes des Rassemblement National sind einhellig: das sei nicht nur eine Gefahr für die Demokratie in Frankreich, sondern eine Bedrohung für ganz Europa.
„Emmanuel Macrons Kalkül, die Mehrheit des Landes mit dieser vorgezogenen Parlamentswahl hinter seiner Partei zu versammeln, ist gescheitert“, kritisiert René Repasi, Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im Europaparlament. Eine absolute Mehrheit für die extremen Rechten in der Nationalversammlung wäre ein „historischer Tiefpunkt“ für Frankreich. Aber auch „auf europäischer Ebene und in Deutschland kann dies niemanden gleichgültig lassen“. Der Europaabgeordnete mahnt: „Angesichts des Krieges in der Ukraine, der Klimagefahr, der sozialen Krise und der möglichen Rückkehr von Donald Trump an die Spitze der Vereinigten Staaten brauchen wir ein starkes Europa und damit ein Frankreich im Lager der Demokratien.“
Gefahr für den deutsch-französischen Motor
Große Sorge äußert auch Moritz Körner. „Für Europa ist das französische Wahlergebnis bedrückend“, sagt der Europaabgeordnete der FDP und befürchtet, dass der „deutsch-französische EU-Integrationsmotor zum Erliegen“ kommen könnte. Körner weist auch auf die vielen Stimmen für die extremen Linken hin, die in der Vergangenheit mit Anti-EU-Äußerungen aufgefallen sind. Der Liberale fordert, dass „Deutschland nun mit anderen großen Mitgliedstaaten die pro-europäische Agenda fortsetzen“ müsse.
Ronja Kempin, Politikwissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, rechnet nicht damit, dass der Rassemblement National die notwendige absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen wird. Für diesen Fall beschrieb sie das Szenario, dass sich die verschiedenen politischen Kräfte im Parlament gegenseitig blockieren würden. „Frankreich wäre in einer solchen Situation politisch weitgehend gelähmt“, prophezeit die SWP-Frankreichexpertin Kempin. Mit einer Minderheitsregierung dürfte es Emmanuel Macron kaum gelingen, Mehrheiten für seine politischen Vorhaben zu erreichen. Als Staatspräsident werde er „zwar die Vorrangstellung in der Europa-, Außen- und Verteidigungspolitik behalten“, ist Ronja Kempin überzeugt. Politisch eingehegt von seinen Gegnern werde er in Zukunft allerdings in der Europapolitik deutlich vorsichtiger agieren. Große Reforminitiativen seien von ihm nicht mehr zu erwarten.