Ist das Kunst? Skulptur von Per Kirkeby. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Erst schlagen die Wellen hoch, dann übersieht man sie: Kunst im öffentlichen Raum. Das will Stuttgart nun ändern und den Stadtraum mit temporären Kunstprojekten aufmischen. Sie sollen gern auch Debatten entfachen.

Ärger gab es schon immer: Als König Wilhelm I. in den königlichen Anlagen in Stuttgart ein paar nackte Figuren aufstellte, war das Volk empört – und der König beleidigt. Trotzig ließ er die Nackedeis ins Innere der Schlossanlage bringen und wies seinen Hofbildhauer an, fortan auf allzu Fleischliches in der Öffentlichkeit zu verzichten. Auch als der Galatea-Brunnen entstand, war es den Stuttgarter nicht recht. Die Nymphe, meinten sie, sei nicht nur zu nackt, sondern auch zu dick.

Kaum jemand nimmt die blauen Bänder im Tunnel als Kunst wahr

Kunst im öffentlichen Raum, wie es offiziell heißt, hat es nicht leicht. Wind und Wetter sind dabei noch das geringste Problem. Wird sie neu installiert, erregen sich die Gemüter – steht sie dann eine Weile, nehmen die meisten sie meist überhaupt nicht mehr zur Kenntnis. Kaum jemand wird sich noch große Gedanken machen über die blauen Lichtstreifen im Tunnel unter dem Schlossplatz oder über den hohen, gemauerten Schacht aus Backsteinen vor dem Haus der Abgeordneten. Als die Statue von König Wilhelm II. dagegen umziehen sollte, flammte der Volkszorn auf.

Darauf will die Stadt Stuttgart nun reagieren und das Potenzial der öffentlichen Kunst stärker nutzen. Deshalb hat der Gemeinderat eine Million Euro bewilligt und 2,5 neue Stellen für das Kulturamt geschaffen – damit künftig auch Stuttgart tun kann, was in Städten wie München oder Wien längst üblich ist. Denn dort werden gezielt temporäre Kunstprojekte im Stadtraum gefördert. Sie können sich auf aktuelle Debatten beziehen, die Bewohner einzelner Quartiere einbinden oder unmittelbar auf lokale Gegebenheiten reagieren. Partizipation ist dabei ein großes Thema.

Nur eine Skulptur hinzustellen ist nicht mehr zeitgemäß

„Partizipativ“, sagt Marc Gegenfurtner, der Kulturamtsleiter, „heißt nicht, dass alles kollektiv erarbeitet werden muss.“ Aber es heißt doch, dass es einen klaren Neubeginn in der Stadt geben soll. Gegenfurtner ist überzeugt: „Dass jemand eine Skulptur hinstellt, diese Zeiten sind vorbei.“

Es geht auch kaum anders, denn es stehen bereits mehr als 400 Skulpturen im öffentlichen Raum in Stuttgart; auf Plätzen, in Parks oder im Umfeld von Gebäuden – und der aktuelle Streit, wer eigentlich für die Instandhaltung der zahllosen Objekt von Otto Herbert Hajek am Hasenberg aufkommen soll, zeigt, dass es an der Zeit ist, darüber nachzudenken, ob alles, was einst aufgestellt wurde, dort für die Ewigkeit stehen bleiben muss. Bisher war es ein Tabu, diese Frage überhaupt zu stellen. Gegenfurtner sieht das anders: „Man kann schon darüber nachdenken, manche Denkmäler woandershin zu verfrachten oder mit neuen Formen zu ergänzen.“

Stuttgart hat eine Vielzahl internationaler Kunstwerke

Stuttgart ist eine Hochburg ambitionierter, internationaler Kunst im Stadtraum. In den 1980er und 1990er Jahren erlebte die Stadt einen wahren Boom. Allein die Internationale Gartenschau (IGA) bescherte der Stadt viele auch radikal neue Arbeiten von Weltrang, die für viel Geld angekauft und oft für den Ort konzipiert wurden: etwa das „Sanctuarium“ des Niederländers Herman de Vries auf dem Pragsattel, ein Kreis aus Speeren, in dem die Natur noch ungestört wachsen darf. Oder das „Gate of Hope“, ein riesiges Glas-Metall-Objekt am Pragsattel, eine Skulptur des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Dan Graham.

Damals wollte sich Stuttgart als internationale Kunststadt beweisen. Heute, zwanzig Jahre später, hat sich der Kunstbegriff deutlich verändert. Es entstehen zwar weiterhin klassische Bildhauerarbeiten, aber immer häufiger auch Formate, bei denen es nicht darum geht, ein Artefakt zu erstellen, das für die Ewigkeit aufgehängt oder aufgestellt wird. Die neuen Kunstformen wollen stärker in die Gesellschaft eingreifen. So eröffnete der Stuttgarter Byung Chul Kim 2009 im Stuttgarter Osten ein Performance-Hotel, in dem kostenlos nächtigen durfte, wer eine Performance aufführte. Nana Hülsewig und Fender Schrade wiederum kaperten 2016 die Videowand auf dem Hochbunker am Pragsattel und bespielten sie mit ihren Inhalten.

Auch ein spektakuläres Großprojekt à la Christo ist geplant

„Temporäre Projekte entfachen eine andere Dynamik“, sagt Marc Gegenfurtner. So sehr er sich über die nun bewilligten Mittel freut, die der Stadt ermöglichen, neue Kunstformen zu entwickeln, weiß er auch: Die Pflege des Bestands wird einen Gutteil des Geldes verschlingen.

Für alle Aufgaben und kreativen Ideen, die es in der Landeshauptstadt gibt, wird die eine Million also nicht annähernd reichen. Mehr Geld wäre zwar da gewesen, der Stuttgarter Gemeinderat hat aber lieber noch ein weiteres Projekt im öffentlichen Raum abgenickt, das vor allem öffentlichkeitswirksam sein soll: Insgesamt 1,5 Millionen will man in eine temporäre Installation investieren, die Schlagzeilen liefern und so spektakulär sein soll wie Christos Verhüllung des Triumphbogens in Paris. Eine künstlerische Idee gibt es allerdings noch nicht dazu. Um die inhaltliche Ausgestaltung soll sich nicht etwa das Kulturamt kümmern, sondern Stuttgart-Marketing und die Eventgesellschaft in.Stuttgart.

Qual der Wahl: Kunst im öffentlichen Raum ist ein explosives Thema

Dilemma
Wer soll entscheiden, welche Kunstwerke in der Stadt stehen dürfen? Eine kaum zu lösende Frage. Treffen fachkundige Jurys die Wahl, bleibt die Bevölkerung außen vor. Überlässt man den Bewohnern die Entscheidung, haben es innovative künstlerische Positionen meist schwer. Wie man es macht – es gibt immer Anlass zu Debatten, was das Thema Kunst im öffentlichen Raum aber auch explosiv und spannend macht.

Videotalks
Das Stadtpalais – Museum für Stuttgart initiiert regelmäßig Diskussionen zur Kunst im öffentlichen Raum. Sie finden sich im Netz unter https://www.youtube.com/c/StadtPalaisStuttgart/videos.