Norbert Gstrein Foto: Bulgrin - Bulgrin

Norbert Gstrein gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren, und er ist immer wieder gern in Esslingen zu Gast. Bei der LesART hat Gstrein nun seinen neuen Roman „Die kommenden Jahre“ vorgestellt.

EsslingenIn der Mathematik, die er einst studiert hat, folgt vieles einer klaren Ordnung. Doch damit kommt Norbert Gstrein als Autor nicht sehr weit: Das Leben hat seine eigenen Gesetze, die Welt gerät leicht aus den Fugen, und der Mensch ist, wie er nun mal ist. Das macht es für einen Schriftsteller nicht leichter, sich den großen Themen zu widmen: der Flüchtlingskrise, dem meteorologischen und gesellschaftlichen Klimawandel, der Erosion des scheinbar Verlässlichen und der Ratlosigkeit vieler in einer Welt, der gewohnte Maßstäbe abhandenkommen. Und wenn dann auch noch die familiären Grundfesten im Leben der Protagonisten ins Wanken geraten, muss der Autor schon ein guter sein, wenn er all das auf weniger als 300 Seiten zu einem stimmigen Ganzen vereinen will. Norbert Gstrein hat sich dieser Herausforderung gestellt. Und weil er zu den versiertesten Vertretern der deutschsprachigen Literatur gehört, ist ihm mit seinem neuen Roman „Die kommenden Jahre“ erneut ein starkes Stück Literatur gelungen. Deshalb durften Gstrein und sein Buch im Programm der Literaturtage nicht fehlen.

Richard ist ein angesehener Gletscherforscher, seine Frau Natascha ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Einst haben sie sich geliebt, doch ihrer beider Leben sind auseinandergedriftet. Wenn Richard in Gstreins Roman „Die kommenden Jahre“ (Hanser-Verlag, 22 Euro) über seine Frau, sein Kind, seinen Alltag und das Weltgeschehen nachdenkt, würde er gern die Flucht ergreifen. Und als er während eines Kongresses aus der Distanz auf das blickt, was seine Existenz ausmacht, wird er ratlos. Richards Lebenskrise eskaliert, nachdem sich Natascha trotz seiner Bedenken entschlossen hat, eine syrische Flüchtlingsfamilie in ihrem Sommerhaus aufzunehmen. Eigentlich findet er es richtig, Menschen in Not zu helfen. Ihn stört, wie Natascha ihre Menschlichkeit medienwirksam zelebriert – ohne zu fragen, wie es der syrischen Familie dabei geht, der Richard lieber respektvoll und auf Augenhöhe begegnen würde. Und so „desertiert“ er immer weiter aus seiner Existenz, bis des Schicksals Lauf irgendwann nicht mehr aufzuhalten ist.

Dass die Geschichte ein halbes Jahr vor der letzten US-Präsidentenwahl beginnt, darf den Leser hellhörig machen: Vieles ist in der Schwebe – die Furcht, was aus der Welt werden könnte, wenn der gewählt wird, der am Ende tatsächlich Präsident wurde, ist mit Händen zu greifen. Nicht einmal die Zukunft der Gletscher, als deren Wächter sich Richard versteht, ist in Zeiten der Erderwärmung gewiss. Norbert Gstrein findet die literarische Verarbeitung des Ungewissen reizvoll. Das treibt er nun auf die Spitze: Während sich Dürrenmatt in „Grieche sucht Griechin“ mit zwei alternativen Enden begnügt hatte, dürfen es in Gstreins neuem Buch drei sein: ein „Ende für Literaturliebhaber“, „Ein anderes Ende“ und „Was wirklich geschehen ist“. Im angeregten LesART-Gespräch mit Susanne Lüdtke verriet der österreichische Autor: „Ich habe die ersten beiden Schlussvarianten als Puffer gebraucht, weil das wirklich Geschehene so drastisch ist. Eine Geschichte ist erst dann fertig erzählt, wenn sie zu ihrem schlimmsten Ende gebracht wurde.“

Viele sind in diesem Roman auf der Flucht: Die einen fliehen vor Krieg und Verfolgung hierher. Richard würde Deutschland, zu dem er als Österreicher ohnehin ein etwas gespaltenes Verhältnis hat, dagegen lieber heute als morgen den Rücken kehren, weil ihm sein Leben fremd geworden ist. Und die Menschen im Dorf, in dem das Sommerhaus steht, flüchten sich vor ihrer eigenen Angst vor der Zukunft, indem sie ihre Unsicherheit in Vorurteile, Ablehnung und Hass gegen die syrischen Nachbarn ummünzen.

Vermaledeiter Zwang zur Euphorie

Das Motiv der Flucht treibt Norbert Gstrein um, weil er ahnt, dass es unsere Zukunft prägen wird. Für ihn ist es keine Frage, dass eine so reiche Gesellschaft Menschen in Not helfen muss. Doch er kann seinen Protagonisten verstehen, wenn dem der „Zwang zur Euphorie“ zu weit geht: „Es war auffallend, wie schnell es zu Ängstlichkeiten und Sprachregelungen gekommen ist“, sagt Gstrein. „Bereits die Feststellung, dass es schwierig werden könnte, war plötzlich nicht mehr zulässig. Die anfängliche Euphorie war so groß, dass der Fall irgendwann kommen musste.“ Gstrein erinnert daran, dass wir uns mit dem Gedanken anfreunden sollten, dass der Zustrom von Flüchtlingen nichts ist, was irgendwann im Sinne der Kanzlerin „geschafft“ wäre. „Wir werden lernen müssen, Fremdheit auszuhalten, weil die Welt in Bewegung bleiben wird“, riet er seinem Esslinger Publikum. „Das darf uns keine Angst machen, wenn wir eine gute Zukunft gestalten wollen.“

Es ist ein ambitionierter Gedanke, Flüchtlingskrise, Klimakrise und Ehekrise in ein und derselben Geschichte zu verknüpfen. „Wenn man von so großen Themen hört, kommt leicht der Verdacht auf, ein Buch könnte überladen sein. Man könnte sogar vermuten, ‚Die kommenden Jahre’ sei ein Thesenroman. Das ist er aber nicht – und wollte es auch nie sein.“ Doch trotz der Tiefe der Gedanken und der Inhaltsschwere der Geschichte findet Norbert Gstrein eine wohltuend leichte, bisweilen gar leicht ironisch anmutende Sprache. Und er nähert sich seinen Figuren sensibel und doch mit klarem Blick. Das passt zu einem Autor, der in Esslingen einmal mehr bewiesen hat, wie wichtig gerade in diesen Zeiten Menschen sind, die der kollektiven Aufgeregtheit die Tiefe ihrer Gedanken und die Besinnung auf das Wesentliche entgegenstellen.