Norbert Gstrein zeigt sich im LesART-Gespräch mit Nicola Steiner überaus entspannt und witzig. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Norbert Gstrein zählt zu den renommiertesten deutschsprachigen Autoren, und er ist bei den Esslinger Literaturtagen LesART stets ein gern gesehener Gast.

EsslingenEigentlich, so Norbert Gstrein, schicke es sich für einen Schriftsteller, zu betonen, „dass er beim Schreiben seines Romans viele Jahre gerungen und gegen Wände angekämpft hat“. Der aus Tirol stammende und heute in Hamburg lebende Autor will bei seinem Besuch bei der Esslinger LesART aber ehrlich sein: „Ich habe nicht gerungen mit diesem Roman.“ Dabei ist sein Buch „Als ich jung war“ (Hanser-Verlag, 23 Euro), für das Gstrein jüngst den Österreichischen Buchpreis erhielt, alles andere als leichte Kost, behandelt es doch die großen Themen Schuld, Einsamkeit, Erinnerung und Wahrheit. Bei allem intellektuellen Tiefgang durfte das Publikum im Kutschersaal der Stadtbücherei nun einen überaus entspannten und witzigen Autor erleben. Das war auch ein Verdienst von Moderatorin Nicola Steiner, die im lockeren Plauderton gemeinsam mit Norbert Gstrein dahin ging, wo es weh tut.

„Als ich jung war, glaubte ich fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhanden gekommen sein“, lässt Norbert Gstrein seinen Ich-Erzähler Franz formulieren und schickt Julian Barnes‘ Zitat gleich hinterher: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“ Dieser Franz erzählt sich und den Lesern sein eigenes Leben. Als junger Mann fotografiert er im Tiroler Hotel seines Vaters Hochzeiten. Einmal küsst er – gegen ihren Willen – ein erst 13 Jahre altes Mädchen aus einer Festgesellschaft. Ein andermal kommt eine junge Braut unter mysteriösen Umständen ums Leben.

„Der Roman versucht, diese beiden Ereignisse im Bewusstsein, im Schuldbewusstsein des Erzählers zu verbinden“, erklärt Norbert Gstrein. Immer wieder macht sich Franz Gedanken über den Umgang von Männern mit Frauen. Er begreift sich selbst als Mitglied dieser Männer-Gesellschaft, und der Autor lässt (ausgerechnet) eine Nonne die Theorie formulieren, nach der Männer dazu neigen, Frauen zu schubsen. Immer wieder. Bis die Frauen irgendwann am Abgrund stehen und ein letzter kleiner Rempler ausreicht, sie hinunterzustoßen.

Franz entpuppt sich nach und nach als völlig unzuverlässiger Erzähler seines eigenen Lebens. „Kausalzusammenhänge sind nicht so einfach“, sagt Norbert Gstrein trocken. Franz formuliert das folgendermaßen: „Man musste wissen, dass ‚weil‘ ein gefährliches Wort war, vielleicht das gefährlichste Wort überhaupt, zumal es nahelegte, man habe etwas verstanden, wo man vielleicht gar nichts verstanden hatte und nach einem ersten, grellen Lichtblitz der Erkenntnis in Wirklichkeit im Dunkeln tappte.“ Franz verschweigt, beschönigt, verfälscht und formuliert seine eigene Lebensgeschichte um.

Norbert Gstrein hat interessiert, wie weit er seinen sich selbst belastenden Erzähler treiben kann: „Man möchte ihm manchmal auf die Schulter tippen und fragen: ‚Weißt du eigentlich, was du da erzählst?‘“ Franz wird immer unsicherer über sein eigenes Selbst, er wandert in die USA aus, verdingt sich als Skilehrer und kehrt erst nach vielen Jahren nach Tirol zurück, nachdem ein Mann sich umgebracht hat und ein junges Mädchen spurlos verschwunden ist. Das Publikum bleibt nach diesem Abend fragend zurück: Kann man einer Geschichte, die man nicht selbst erzählt, jemals trauen? In welcher Form lässt sich Wirklichkeit überhaupt abbilden? Nicht von ungefähr stellt der Autor seinem Buch eine Aussage des Western-Schriftstellers Louis L’Amour voran: „Viel wäre noch zu erklären.“ Norbert Gstreins Roman funktioniert wie ein Kaleidoskop, das bei jedem leichten Drehen aus denselben glitzernden Steinchen wieder ein völlig neues Bild zusammensetzt.

Der Schriftsteller überrascht das Esslinger Publikum mit einem kurzen Auszug aus seinem Recherche-Tagebuch. „Denn eigentlich habe ich das Buch nur geschrieben, um ihm hinterher reisen zu können“, gesteht er knitz: „Ich hatte geschrieben, dass Frank von Jackson in Wyoming nach Seattle fährt. Da sollte ich doch mal nachschauen, wie das dort ist.“ Und Gstrein verblüfft seine Zuhörer mit der Bemerkung, dass er nach seiner Rückkehr aus den USA nur wenige der bereits geschriebenen Sätze ändern musste. Bei dieser Reise hat er auch das Foto eines Mädchens entdeckt, das mit seinem Hund vor einer Prärielandschaft läuft. Vier Monate lang habe er den Fotografen beschwatzen müssen, jetzt ziert es den Buchumschlag: „Es strahlt Stärke, Einsamkeit und Freiheit aus. Es lädt mich dazu ein, neben ihr herzulaufen, bis mein Herz in Brüche geht.“

Man hört Norbert Gstrein gerne zu beim unaufgeregten Lesen seiner eleganten, präzisen und doch so sinnlichen Sätze, die er im Kutschersaal in klug ausgewählten Passagen präsentiert. Man freut sich über jemanden, der im Gespräch mit großer Selbstverständlichkeit Worte wie „Unentschlossenheiten“, „Schreckensmöglichkeiten“, „Unheilszusammenhang“ und „Glücksfähigkeit“ verwendet. Und man amüsiert sich, wenn er sich zwischendurch auch mal selbstironisch auf die Schippe nimmt und kommentiert, dass seine Bardame Cathy heißt und nicht, wie in amerikanischen Büchern sonst üblich, Kitty: „Haarscharf am Klischee vorbeigeschrammt.“ Oder wenn er das LesART-Publikum überaus lakonisch über sein sich erst nach und nach auflösendes Spiel mit den Namen seiner Protagonisten aufklärt: „Ja, kann man machen.“