Rotkäppchen sah auch schon mal besser aus. Jetzt torkelt es mit zerzausten Haaren und glasigen Augen, eine Berentzen-Flasche in der Hand, die Straße entlang. Etwas weiter hinten kotzt ein Marienkäfer ins Gebüsch. Diese absurde Szene vom Fasnetsumzug in Konstanz hätte genauso gut auch im Kreis Esslingen stattfinden können, denn: Die Narrenzeit hat begonnen und dazu gehört neben Umzügen, buntem Konfetti und schrillen Verkleidungen auch jede Menge Alkohol. Dass sich in der fünften Jahreszeit schon so manch einer, der zu tief ins Glas geschaut hat, selbst zum Narren gemacht hat, daran hat man sich ja mittlerweile gewöhnt. An die extremen Alkoholexzesse unter Jugendlichen hingegen nicht. Sie bleiben besorgniserregend.
Welches Ausmaß der Vollrausch zur Fasnet bisweilen annehmen kann, wissen Polizei und Rettungskräfte. Im Kreis Esslingen mussten 2016 nach Angaben der Polizei 14 Personen ihren Führerschein abgeben, sieben Unfälle ereigneten sich - alles infolge übermäßigen Alkoholkonsums.
„Seit mehreren Jahren wachsen die Patientenzahlen leider an“, teilt auch Matthias Aierle, Bereitschaftsleiter beim DRK-Ortsverein Wernau mit. Alkohol und die damit oft verbundene Aggressivität stellten die Rettungskräfte jedes Jahr vor größte Herausforderungen. „Wir bewegen uns während der vier Tage Wernauer Fasnet bei über 50 Patienten aufgrund von Alkoholkonsum.“ Aierle betont, dass es sich dabei meist um „Spaß-Touristen“ und weniger um Hästräger oder Wernauer handle.
Das Vollrausch-Feiern ärgert auch die Narrenzünfte: „Dieser Sauftourismus ist nicht die Fasnet, die wir wollen“, sagt Ronald Witt, Präsident des Narrenbundes Neuhausen. Er spielt damit auf das Partyzelt in Neuhausen an, das 2012 schließlich aufgegeben wurde - weil es zu etlichen schweren, alkoholbedingten Vorfällen kam.
Die beiden Fasnethochburgen Wernau und Neuhausen werden häufig Schauplatz hemmungsloser Besäufnisse. 2016 war das Maß dann buchstäblich voll. „Die erschreckende Anzahl Betrunkener, vor allem Jugendlicher und junger Erwachsener sowie das ’Parallel-Event’, das während unseres Umzugs entstanden ist“, waren Auslöser für das gemeinsame Aktionsbündnis mit dem Narrenbund Neuhausen „Fasnet ist mehr als Vollrausch“, erzählt Frank Hauber, 2. Zunftmeister der Wernauer Narren. Mit dem Motto „du bist nicht du, wenn du besoffen bist“ sollen Fasnet-Besucher auf Plakaten und Flyern zur Mäßigung angehalten sowie für das Thema „Feiern mit Vernunft“ sensibilisiert werden.
Und da das mit der Vernunft so eine Sache ist, folgen auch wieder direkte Maßnahmen: Am „Fasnetssamstig“ wird an allen Verkaufsstellen entlang der Umzugsstrecke bis zum Abend nichts Hochprozentiges ausgeschenkt. Die Wernauer Gastronomen unterstützten die Aktion, indem sie während dieser Zeit ebenfalls auf den Ausschank von Spirituosen verzichten.
Ein vernünftiger Umgang mit Alkohol gilt auch für die Narren selbst. Die Wernauer Zunft achtet darauf, dass niemand über das Ziel hinausschießt und sich mit seinem Verhalten schädigend auf den Verein auswirkt. Wo das dennoch passiere, muss der Hästräger mit Verwarnung und Sperre bis hin zum Vereinsausschuss rechnen, erzählt Hauber. Das Verhalten der Narren lässt sich über Sanktionen zumindest größtenteils steuern. Bei den Zuschauern ist das schwieriger.
„Wir möchten hier niemanden anprangern. Alkohol gehört ja auch ein Stück weit zur Fasnacht dazu“, betont Hauber. Auffällig sei aber, dass sich viele Zuschauer nur noch zum Betrinken verabredeten und sich weder für den Umzug noch für das Brauchtum interessierten. Diese Ansicht teilt auch Witt: Etliche Narrenzünfte hätten sich gegründet, bei denen nur noch der „Party-Gedanke“ im Vordergrund stehe. Sie hätten mit der eigentlichen Fasnet und ihrer über 850-jährigen Tradition nichts mehr gemein, kritisiert Witt. „Für eine Ballermann-Party braucht man keine Fasnet.“ Einen Ausweg aus dieser gesellschaftlichen Entwicklung sieht er in der Aufklärung und Einbindung der Jugendlichen.
Warum vor allem junge Erwachsene zur Fasnet zu alkoholbedingten Totalausfällen neigen, erklärt Gerhard Schmid, Leiter der Jugend- und Drogenberatung des Landkreises: „Fasching ist ja an sich ein Anlass, Hemmungen fallen zu lassen und Dinge zu tun, die man im normalen Alltag nicht tun würde. Der Alkohol lässt die üblichen Schranken sinken, so dass man ausgelassener ist.“ Das würde auch ohne Alkohol funktionieren, in unserer Gesellschaft sei er aber fest mit diesen Festen verknüpft. Immerhin: Der Alkoholkonsum bei Jugendlichen sei allgemein sowie im Bereich des Rauschtrinkens rückläufig.
Die Stadt Wernau, Ehrenamtlichen und Einsätzkräfte sind jedenfalls vorbereitet: 15 Fahrzeuge und 70 Rettungskräfte des DRK werden auch dieses Jahr am Samstag wieder in Wernau sein.