Der 79-jährige Axel Deubner erinnert sich auf dem Spielplatz des Kinderhauses Etzel genau: Hier stand die Villa, die er mit politischen Freunden 1971 besetzt hat. Foto: LICHTGUT/Zophia Ewska

Aus Protest gegen Wohnungsnot kam es 1971 zur ersten Hausbesetzung in Stuttgart. Axel Deubner, 79, schilderte unserer Redaktion, was damals geschah. Nun hat sich eine Professorin aus Leeds gemeldet: Sie lebte als Flüchtlingskind in der Villa, die Stadtgeschichte schrieb.

Die prachtvolle Jugendstilvilla, die sich an der Etzelstraße am Bopser befand, ist längst abgerissen – sie hat in einer politisch aufgeladenen Zeit die Stadt gespalten. Das Kapitel der Stadtgeschichte über die erste Hausbesetzung von Stuttgart beinhaltet mehr, als man bisher angenommen hat. Eine Mail aus Leeds in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire offenbart dies. Absenderin ist eine Professorin, die als Flüchtlingskind 1971 mit ihren Eltern genau in dieser besetzten Villa lebte.

Diplom-Ingenieur Axel Deuber hatte sich im vergangenen Sommer mit unserer Zeitung am Schauplatz einer rebellischen Zeit getroffen – beim Kinderhaus Etzel im Stuttgarter Süden. Lebhaft erinnerte sich der heute 79-Jährige, wie er mit politischen Freunden an der Etzelstraße in einem parkähnlichen Grundstücke zwei Villen entdeckte, die der Stadt gehörten und weitgehend leer standen. Unter dem Dach einer der beiden Häuser habe eine tschechische Familie gelebt, die dort aber unfreiwillig raus musste.

Denn nach dem Willen der Stadtverwaltung sollten beide Häuser abgerissen werden, damit Platz frei werden konnte für einen US-Hotelkonzern, der an diesem naturbelassenen Ort eine Luxusherberge mit 14 Stockwerken errichten wollte. In der Stadt wurde darüber kontrovers diskutiert. Die Wohnungsnot war groß, seine Verärgerung über den Leerstand aber war größer als die Furcht vor den Folgen seines Verstoßes gegen das Gesetz. „Wir wollten Druck erzeugen, damit die Stadtpolitik ihre Prioritäten verändert“, erklärt Axel Deubner.

Über 53 Jahre ist das her: An einem Februartag von 1971 kamen die Hausbesetzer mit ihren Kindern. Schon am späten Nachmittag des selben Tages war es mit der ersten Stuttgarter Hausbesetzung schon wieder vorbei. „Eine ganz Kompanie von gutausgerüsteten Bereitschaftspolizisten rückte an und forderte uns auf, das Haus zu verlassen“, erzählte der 79-Jährige, „die tschechische Familie musste sofort ausziehen, ihre Möbel wurden verladen.“ Noch am Abend sei ein städtischer Bautrupp gekommen und habe das Haus unbewohnbar gemacht, etwa alle Türen und Balustraden zerstört. Dies habe ihm „sehr weh getan“ angesichts dieser wunderschönen Jugendstilvilla, so Deubner.

„Die tschechische Familie, das waren wir“

Der Artikel, in dem einer der ersten Hausbesetzer von Stuttgart detailreich seine Erinnerungen schildert, wird auch in England gelesen. In einer Mail an unsere Redaktion bedankt sich die Absenderin dafür und schreibt: „Die tschechische Familie, das waren wir.“

Professorin Eva Frojmovic lehrt an der Universität in Leeds. /University of Leeds

Die E-Mail-Schreiberin Eva Frojmovic, die heute als Kunsthistorikerin an der University of Leeds lehrt, war damals acht Jahre alt, und sie teilt uns mit: „Meine Mutter lebt auch noch. Sie wohnt in Baden-Baden.“ Ihre Eltern, die auf ihrer Flucht in Stuttgart landeten, waren Holocaustüberlebende. Dort, wo sich heute die Jugendfarm Etzel befindet, hätten sich „interessante Geschichte überkreuzt“, schreibt die Professorin.

Häftlingsnummer von Auschwitz auf dem Unterarm tätowiert

Von September 1970 bis zur Räumung des Hauses im Februar 1971 lebte die tschechische Familie an der Etelstraße 15. „Wir waren illegal eingereist“, berichtet sie, „unsere Flucht aus der Tschechoslowakei war eine halbe Weltreise und ein ganzes Abenteuer.“ Ihr Vater Alexandr Frojmovic hatte auf dem linken Unterarm die eintätowierte Häftlingsnummer A (wie Auschwitz) 6729. Als Siebzehnjähriger hatten ihn die die Nazis, die sein Land besetzt hielten, mit seinem Vater und vielen Freunden aus einem Dorf in den Karpaten in den Osten gebracht, wo er Arbeit finden sollte. Der Viehwagen-Transport endete in Auschwitz.

Alexandr Frojmovic erkrankte schwer, überlebte dank der Befreiung durch die Amerikaner im Jahr 1945. Später heiratete er die ukrainische Kinderärztin Jelena. Die Tochter Eva Frojmoic, jene Mailschreiberin aus Leeds, kam 1962 zur Welt. Die Dubcek-Ära in der CSSR gab der Familie Hoffnung. Als die Sowjets das Land besetzen, floh die Familie in den Westen. Die Mutter bekam 1970 Arbeit als Assistenzärztin in einem Stuttgarter Krankenhaus, der Vater wurde Lagerist in einer Firma. Die Arbeiterwohlfahrt quartierte Mutter, Vater und das Kind in die leer stehende Villa an der Etzelstraße ein, wo sie bis zur Besetzung des Hauses lebten. Bei der Räumung zerstörten Polizeibeamte die Fenster und vieles mehr.

Noch am Tag der Hausbesetzung im Februar 1971 räumte die Polizei die Villa. /Feddersen

1973 zog die tschechische Familie nach Baden-Baden

Ein Anwalt der Hausbesetzer erwirkte zwar beim Amtsgericht eine einstweilige Verfügung gegen den Räumungsbefehl und gegen den Rauswurf der tschechischen Familie. Doch das Haus war nicht mehr bewohnbar. „Danach bekamen wir eine Einzimmerwohnung in der neuen Siedlung Im Lauchhau“, erinnert sich die heutige Kunsthistorikerin, „die Wohnung war eindeutig für eine Einzelperson gedacht.“ Die Tochter schlief „auf einer Art Bank im Flur.“ Hausaufgaben machte sie am kleinen Küchentisch. Der einzige Luxus: „Meine Eltern kaufen mir ein Klavier, ein altes Ding, das im im Hinterzimmer einer Kneipe stand und voller Konfetti war.“

1973 zog die Familie nach Baden-Baden – die Mutter bekam Arbeit im dortigen Stadtkrankenhaus. Mit der Tochter ging es aufwärts. In den 1980ern studierte sie unter anderem in Freiburg, Jerusalem und München Kunstgeschichte. Nach der Promotion und Forschungsarbeiten in Rom wurde sie in den 1990ern an die Universität von Leeds berufen, wo sie heute als Kunsthistorikerin das Centre for Jewish Studies leitet.

Spannende Lebenslinien überkreuzten sich

An die Stuttgarter Villa an der Etzelstraße erinnert sich Eva Frojmovic ganz genau: an den „verwilderten Garten mit dem kleinem Sommerhäuschen aus Holz“, an die „zugigen alten Fenster, ans Fahrradfahren und Ballspielen im Foyer bei Regen, die schönen Räume und das besondere Licht“. Leider habe sie von all dem keine Fotos und fragt über unsere Zeitung, ob Menschen in Stuttgart solche besitzen.

Jetzt versucht die Professorin, ihre eigene Geschichte zusammen mit der Zeitgeschichte zu rekonstruieren. In der Villa am Bopser überkreuzten sich damals spannende Lebenslinien. In Stuttgart erwachte die Protestbewegung gegen Wohnungsnot, und gleichzeitig offenbarte sich die Flüchtlingsnot, die auf die Nazizeit zurückzuführen war. Damit zeigt sich zweierlei: Europäische Nachkriegsgeschichte wirkt bis heute nach. Und Flüchtlingskinder können es sehr weit bringen.