Die Filstalbrücke – Teil der Neubaustrecke Stuttgart–Ulm Foto: /Werner Kuhnle

Für die neue Highspeed-Strecke Stuttgart–Ulm fehlen schnelle Abschlepploks. Im schlimmsten Fall kann das bedeuten, dass es viele Stunden dauert, bis ein blockiertes Gleis wieder frei ist. Wie steht die Bahn dazu?

Im Dezember wird die Deutsche Bahn AG die milliardenteure neue ICE-Strecke zwischen Wendlingen bei Stuttgart und Ulm über die Schwäbische Alb mit einigen Jahren Verspätung in Betrieb nehmen. Jetzt kommt ein peinliches Versäumnis heraus: Frühestens ab 2026 werden moderne Abschlepploks bereitstehen, mit denen man im Notfall und bei Stromausfällen an der Strecke die bis zu fast 1000 Tonnen schweren ICE-Züge rasch bergen und wegziehen kann.

Bis dahin aber kann es im schlimmsten Fall Stunden dauern, um auf der teils steilen Gefällestrecke blockierte Gleise und Unfallstellen schnell wieder frei zu bekommen. Der Grund: Die vorhandenen schweren Schlepploks mit Dieselantrieb verfügen nicht über das zwingend nötige digitale Leit- und Sicherungssystem für die knapp 60 Kilometer lange Neubaustrecke. Erlaubt ist daher nur das Fahren „auf Sicht“ bei Tag – mit allerhöchstens Tempo 25 km/h. Eine brisante interne Anweisung der DB Fernverkehr AG an Lokführer, die unserer Redaktion vorliegt, offenbart die heiklen Versäumnisse.

Die Bahn spricht von einem „erprobten betrieblichen Prozess“

Die Deutsche Bahn (DB) sieht das auf Anfrage unserer Redaktion anders. Demnach gebe es wie bei allen Hochgeschwindigkeitsstrecken auch für Wendlingen–Ulm „ein mehrstufiges, durch das Eisenbahn-Bundesamt freigegebenes Notfallkonzept“. Falls ein Zug auf offener Strecke abgeschleppt werden müsse, seien elektrisch betriebene Loks vorhanden. Nur für den „äußerst seltenen Fall“, wenn die Stromversorgung gestört sei, stünden rund um die Uhr zudem Dieselloks und Mitarbeiter in Stuttgart bereit, die „unter genehmigten Sonderregeln die Strecke befahren dürfen“. Auch hierfür gebe es „einen erprobten betrieblichen Prozess“. Gleichzeitig räumt ein Sprecher jedoch ein, es seien derzeit für die DB „keine Dieselschlepploks mit der erforderlichen ETCS-Fahrzeugausrüstung in Deutschland verfügbar“.

ETCS steht für European Train Control System, ein digitales Zugleitsystem, mit dem neue Bahnstrecken in Europa einen einheitlichen Standard bekommen sollen. Das System, das auch auf der Neubaustrecke zwischen Stuttgart und Ulm realisiert wurde, benötigt keine Hauptsignale mehr entlang der Strecke. Was allerdings bedeutet, dass Züge dort ohne passendes ETCS-System an Bord schon aus Sicherheitsgründen allenfalls in Ausnahmefällen und unter strengen Auflagen fahren dürfen.

Genau eine solch heikle Ausnahmegenehmigung hat das Ministerium nun der DB erteilt, damit die ICE-Piste im Notfall zumindest im Schneckentempo mit den vorhandenen Abschlepp- und Bergungsloks der Baureihen 218.8 und 285 befahren werden kann, die allesamt kein passendes ETCS besitzen. Im Haus von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) lässt die Presseabteilung mehrfache Anfragen unbeantwortet.

Die Bahn hat Lok-Bestellungen beim Hersteller Bombardier storniert

In der Branche schüttelt man über die Vorgänge den Kopf. „Die Verantwortlichen im DB-Konzern und Ministerium für die ICE-Piste haben die Problematik offenbar komplett verschlafen und das, obwohl es 2015 bei der Schnellfahrstrecke Erfurt/Halle–Leipzig und Ebensfeld–Erfurt bereits ähnliche Probleme gab“, schimpft ein erfahrener Lokführer, der über die Defizite in den Notfallplänen entsetzt ist. Für die Beschaffung und Ausrüstung von Dieselschlepploks mit dem passenden System habe der Konzern mehr als ausreichend Zeit gehabt.

In der Tat wurde die Strecke schon vor Jahrzehnten geplant, der Bau startete 2012. Warum fehlen dann bis heute geeignete Loks im Notfallkonzept? Der Staatskonzern verweist auf den einst weltgrößten Zughersteller Bombardier, der nach zahlreichen Qualitäts- und Lieferproblemen inzwischen vom französischen Konkurrenten Alstom geschluckt worden ist.

Bei Bombardier habe man 2015 Dieselschlepploks bestellt, die jedoch später „keine ETCS-Zulassung erzielen konnten“, betont die Bahn. Daher habe der DB-Konzern inzwischen diese Lok-Bestellung storniert und Zweikraft-Lokomotiven mit Diesel- und Elektroantrieb des Herstellers Siemens bestellt. Diese Fahrzeuge sollen „nach Auslieferung ab dem Jahr 2026 die Schlepplokdienste gesamthaft übernehmen“, erklärt ein DB-Sprecher weiter. Bis dahin allerdings könnte jeder liegen gebliebene Zug auf der neuen ICE-Piste zur Geduldsprobe werden.

Angeblich fiel die Problematik erst im September auf

Für die Lokführer der vorhandenen Schlepploks gilt wegen der fehlenden passenden ETCS-Technik ein ganzer Katalog von strengen Auflagen, wie einer internen DB-Weisung vom 21. Oktober zu entnehmen ist. Denn damit die Fahrzeuge auf der neuen ICE-Piste überhaupt fahren können und nicht sofort zwangsgebremst werden, muss bei beiden Baureihen 218.8 und 285 die bewährte vorhandene Steuerungs- und Sicherungstechnik komplett abgeschaltet werden. Deshalb müssen die Schlepp- und Bergungsloks beim Noteinsatz auf dem neuen Highspeed-Abschnitt grundsätzlich mit einem zweiten Triebwagenführer besetzt sein, der die Strecke genau kennt und überwacht, dass der Lokführer das strikte Tempolimit einhält, rechtzeitig bremst und Befehle des Fahrdienstleiters befolgt. Weitere Auflagen gelten für den Fall, dass Züge auf den teils schwierigen Gefällestrecken geschoben werden müssen.

In der Branche wird kolportiert, es sei erst im September kurz vor einer geplanten Probefahrt mit Projektplanern und Verantwortlichen der DB Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm aufgefallen, dass bei Stromausfällen an der neuen ICE-Strecke ein liegen gebliebener Zug nicht abgeschleppt werden kann. Um die Inbetriebnahme im Dezember nicht zu gefährden, habe der DB-Konzern die Ausnahmeregelung für Dieselzüge dann in aller Eile direkt beim Bundesverkehrsministerium beantragt – obwohl für eine solche Prüfung und Genehmigung eigentlich das Eisenbahn-Bundesamt in Bonn zuständig ist. „Aber man wollte wohl keine schlafenden Hunde wecken“, vermutet ein Insider.