Elyas M’Barek und Michael Ostrowski in „Tausend Zeilen“. Der Film befasst sich mit der Aufdeckung des Relotius-Skandals Foto: /arco Nagel

Michael „Bully“ Herbig verpackt den Journalismus-Fälscherskandal um Claas Relotius nicht in eine kritische Mediensatire, sondern blendet manches aus. Ist der Film einen Kinobesuch wert?

Insgesamt viermal gewann Claas Relotius den hochangesehenen Deutschen Reporterpreis. Zuletzt 2018 für die Reportage „Ein Kinderspiel“, in welcher der Autor von einem syrischen Jungen erzählte, der angeblich glaubte, durch einen Streich den Bürgerkrieg ausgelöst zu haben. Ein Text „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert“, urteilte damals die Jury. Aus heutiger Sicht klingt die Lobpreisung wie reinste Satire. Denn nur wenige Wochen später kam heraus, dass das ausgezeichnete Werk, wie die meisten Reportagen des höchst erfolgreichen Journalisten, in weiten Teilen bloße Erfindung war.

Größter Presseskandal seit der vermeintlichen Hitler-Tagebücher

Ob „SZ-Magazin“, „Welt“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ oder „Spiegel“ – Relotius hat die deutschsprachigen Leitmedien an der Nase herumgeführt. Seine Reportagen aus Guantánamo, dem Grenzgebiet zwischen USA und Mexiko oder einem kurdischen Hochsicherheitsgefängnis waren brillant und emotional geschrieben, hatten einen dramaturgischen Drive und bedienten die Erwartungshaltungen von Redaktionen und liberaler Öffentlichkeit. Als seine Fälschungen aufflogen, löste dies den größten Presseskandal seit der Veröffentlichung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher 1983 im „Stern“ aus. Und so wie Helmut Dietl den damaligen Fall in der Komödie „Schtonk!“ (1993) kongenial verarbeitete, versucht nun Michael „Bully“ Herbig mit seinem neuen Film „Tausend Zeilen“ das Relotius-Debakel in Lustspielform zu gießen.

Allerdings ist hier nicht der hochbegabte Fälscher die eigentliche Hauptfigur des Filmes, sondern der freiberufliche „Spiegel“-Mitarbeiter Juan Romero (Elyas M’Barek) – ein Filmpseudonym für den Journalisten Juan Moreno, der Relotius 2018 auffliegen ließ und mit „Tausend Zeilen Lügen“ die Buchvorlage zum Film lieferte.

Freier Journalist als Hüter des Pressekodex

Romero wird von der Redaktion als Zuarbeiter angeheuert und soll an der mexikanischen Grenze eine Gruppe von Geflüchteten begleiten. Auf der anderen Seite will Starreporter Bogenius (Filmpseudonym für Relotius, gespielt von Jonas Nay) Mitglieder einer US-Bürgerwehr interviewen, die mit der Waffe in der Hand gegen illegale Migranten ins Feld ziehen. Als Romero den Reportage-Teil des Kollegen liest, wundert er sich über die Offenherzigkeit, mit der die selbst ernannten Grenzschützer dem Journalisten aus Deutschland brisante Details anvertrauen. Er beginnt gegen Bogenius zu recherchieren und fördert immer mehr Ungereimtheiten in dessen Arbeiten hervor.

Indem Herbig den Underdog Romero als tatkräftigen Wahrheitssucher ins Zentrum der Erzählung stellt, bedient er das Narrativ eines konventionellen Journalisten-Thrillers. Mit der Besetzung von Deutschlands Obersympathieträger Elyas M’Barek ist für eine tragfähige Identifikationsfigur gesorgt, welche die Werte des Pressekodex engagiert verteidigt. Und am Ende ist dann auch alles wieder in bester Ordnung, weil der Journalismus ja mit seiner ethischen Methodik den Fälscher in den eigenen Reihen enttarnt hat. So ein klein bisschen Systemkritik wird auch noch geübt, indem Ressortleiter und Chefredakteur hart an der Karikatur entlang als erfolgsverwöhnte Führungskader gezeichnet werden, die nicht sehen wollen, was nicht sein darf.

Der Film blickt hinter die Kulissen, ohne jemandem wehtun zu wollen

Herbig hat aus einem komplex schillernden Stoff eine nette Komödie gemacht, die vorgibt, hinter die Kulissen des Pressebetriebes zu blicken, aber niemand wirklich wehtun will. Dabei hätte die Geschichte das Zeug für eine bissige Mediensatire, die laut darüber nachdenken könnte, warum im Zeitalter der Narrative auch im Journalismus die Erzählung und die Bestätigung des eigenen Weltbildes wichtiger werden als die Faktenlage. Schwerer jedoch wiegt, dass Herbig viel zu wenig Interesse an der Figur des Betrugsreporters entwickelt.

Jonas Nay spielt ihn zwar als smarten, geheimnisvollen Karrieristen, aber was Relotius wirklich angetrieben hat, wird im Film in keinster Weise herausgearbeitet.

Was ist das für ein Mensch, der gleich mehrfach auf die Bühne geht und hochangesehene Pressepreise für gefälschte Reportagen in Empfang nimmt? Ist das kaltschnäuziger Zynismus oder Ausdruck eines psychischen Störungsmusters? Der Katalog der Fragen, die sich der Film nicht stellt, ist lang, weil ihm jene ergebnisoffene Neugier fehlt, die guten Journalismus – und eben auch gutes Kino – auszeichnet.

Tausend Zeilen“ D 2022 93 min R: Michael „Bully“ Herbig D: Elyas M’Barek, Jonas Nay, Michael Maertens