Eine Frau mit Einfluss: Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón) ist nun Repräsentantin der Verschwundenen. Foto: Neue Visionen

Der Franzose Jacques Audiard hat ein Herz für schräge Typen mit großen Ambitionen. Im Genremix „Emilia Perez“ erzählt er von der existenziellen Verwandlung eines Menschen – und das auf so grandiose Weise, dass der Film als einer der großen Oscarfavoriten gilt.

Juan „Manitas“ del Monte ist ein gefährlicher Mann. Über seiner kolossalen Wampe spannt sich sein Shirt, das Gesicht verschwindet hinter dem mächtigen Busch seines Bartes. Manchmal blitzen die Goldzähne auf, wenn er einen Fluch zischt. So sieht ein Räuber, Erpresser, Drogenboss aus, ein Macho durch und durch, das Oberhaupt eines mexikanischen Kartells, ein Mann, der hunderte Männer hat verschleppen und ermorden lassen. Jetzt zittert die Anwältin Rita Castro (Zoe Saldana) vor ihm, nachdem sie von del Montes Schergen von der Straße gepflückt worden war, einfach so, als sei das nichts. Rita hat gerade einen Prozess für ihre Kanzlei gewonnen, ein unrühmlicher Erfolg. Der Angeklagte hatte seine Frau verprügelt, schließlich ermordet. Rita hat ihn reingewaschen und fühlt sich elend, will weg aus der Kanzlei, die von Machos wie Juan del Monte geleitet wird, nur mit dem Unterschied, dass diese Herren feine Anzüge und akademische Titel tragen.

In Jacques Audiards Thriller-Musical „Emilia Perez“ mit der transgeschlechtlichen Schauspielerin Karla Sofía Gascón in einer Doppelrolle bewegen sich sowohl die Anwältin Rita als auch deren neuer Klient Juan del Monte unter den Bedingungen einer männergemachten Ökonomie. Wer nicht mitspielt, wird zerrieben und zertreten. Doch ausgerechnet der Schlimmste von allen, Juan del Monte, eröffnet der ausgebrannten Anwältin Rita die Chance zum Ausstieg.

Erfolgreiche Experimente

Wie Rita ist Juan sein Dasein leid. Als liebevoller Ehemann und Vater zweier Kinder sorgt er sich um seine Familie, will aber raus aus dem Kartell, im Körper einer Frau, die Juan immer gewesen sein will, eine anfangs kaum glaubhafte, fixe Idee. Rita soll Juan einen Mediziner vermitteln, der ihn diskret operiert, darüber hinaus soll sie für die Sicherheit von Juans Frau Jessi (Selena Gomez) und der gemeinsamen Kinder sorgen, die nach dem für die Öffentlichkeit fingierten Tod Juans in die Schusslinie des Kartells geraten könnten. Juan verspricht Rita dafür ein Honorar, mit dem sie neu anfangen kann, als Anwältin in London.

Der Franzose Jacques Audiard ist bekannt für seine extremen Geschichten und Genre-Experimente, etwa über einen verhinderten Konzertpianisten, der sich in illegale Immobiliengeschäfte verstrickt („Der wilde Schlag meines Herzens“, 2005) oder über einen maghrebstämmigen Franzosen, der im Knast zwischen korsischer Mafia und arabischen Mithäftlingen eine blutige Karriere macht („Ein Prophet“, 2009). In „Sisters Brothers“ (2018) schilderte Audiard die komische Tragödie zweier Westernhelden wider Willen, in „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (2021) verfolgte er die amourösen Verwicklungen liebesunfähiger Großstädter. Sexualität, Kriminalität, rohe Gewalt und das Verhängnis sozialer Rollenkonventionen bestimmen wie in diesen Filmen auch in „Emilia Perez“ das Schicksal der Figuren. Die Themen sind Legion, doch in der Art, wie Audiard sie im Rahmen der abseitigen Genre-Mixtur aus Thriller, Romanze und Musical zusammen bringt, werden sie sehr selten behandelt.

Am Ende reibt man sich die Augen

Zu Beginn wirkt das noch befremdlich; gerade hat man Rita im schäbigen Alltagssetting bei der Vorbereitung ihres Plädoyers für einen Frauenschläger beobachtet, plötzlich formiert sich hinter ihr auf der Straße eine choreografisch geordnete Menschenmasse, die mit Rita gegen den Frust ansingt und skandiert; die zuvor naturalistische Szene verfremdet Audiard in den Musical-Sequenzen ins künstlich Bühnenhafte.

Juan del Montes Wunsch, sich mit Ritas Hilfe in Emilia Perez zu verwandeln, erscheint angesichts von dessen betonter Männlichkeit und krimineller Vorgeschichte wie ein schlechter Witz, eine märchenhafte Volte. Doch bald wird klar, dass Jacques Audiard Juans Wunsch nicht als extreme Exit-Strategie eines Gangsters diskreditiert, sondern als dessen Bedürfnis nach Heilung ernst nimmt.

Die Erzählung ist mit Juan del Montes erfolgreicher Transition zu Emilia jedoch längst nicht zu Ende, Rita und Emilia treffen sich Jahre später wieder und beginnen mit der Aufarbeitung von Juans vergangener Morde.

Da geht es auch um Emilias Annäherung an ihre ehemalige Familie, die unterm Verlust des Vaters leidet, und ihn nun im Körper einer entfernten Tante wieder entdeckt – im Guten wie im Schlechten. Audiard erzählt all das im Gewand einer wilden, kitschigen, wunderbaren Ballade, die nicht gut enden kann, aber mit ihrer überbordenden Tragik zu Tränen rührt. Am Ende reibt man sich die Augen, was alles möglich wird, wenn die Gesetze von sozialer Rolle und Geschlecht aufgehoben sind und der Mensch an sich erscheint. Der ist eben mehr als bloß die Summe primärer und sekundärer Geschlechtsteile.

Emilia Perez. Frankreich 2024. Regie: Jacques Audiard. Mit Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña, Selena Gomez. 130 Minuten. Ab 12 Jahren

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