Eine starke, mutige und reflektierte Boxerin: Sarah Scheurich Foto: Marten Lange

Olympia-Kandidatin Sarah Scheurich ist eine der Initiatorinnen der Kampagne „Coach don’t touch me!“. Nach den Missbrauchsvorwürfen im baden-württembergischen Boxen fordert sie die Verbände auf, Athletinnen zu schützen und zu stärken.

Stuttgart - Sarah Scheurich ist eine der besten deutschen Boxerinnen, das Ziel der Mittelgewichtlerin sind die Olympischen Spiele 2021 in Tokio. Zugleich gehörte sie zu den Initiatorinnen der Kampagne „Coach don’t touch me!“. Nach den Missbrauchsvorwürfen gegen drei Personen aus dem baden-württembergischen Leistungsboxen fordert Scheurich die Verbände auf, ihre Strukturen zu verändern – und macht dafür Vorschläge.

Frau Scheurich, was wissen Sie über die Vorwürfe der sexualisierten Gewalt im olympischen Boxsport, die in Baden-Württemberg gegen drei Männer erhoben werden?

Ich kenne ein paar Hintergründe, ich kenne die Namen der Verdächtigen, ich weiß, dass alle drei beurlaubt worden sind. Leider hatte ich keinen Kontakt zu einem der mutmaßlichen Opfer.

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Warum bedauern Sie das?

Weil mir die Mädchen leidtun. Ich kann mir vorstellen, was sie gerade durchmachen, und hätte sie gerne unterstützt. Zumal ich gelesen habe, dass die eine oder andere, die Anzeige erstattet und ausgesagt hat, auch noch bedroht worden sein soll. Deshalb benötigen diese jungen Athletinnen, die ja eine gewisse Zeit gebraucht haben, um den Mut zu finden, zur Polizei zu gehen, nun umso mehr ein sicheres Umfeld und Leute, denen sie sich anvertrauen können.

Was haben Sie gedacht, als Sie von den Missbrauchsvorwürfen gehört haben?

Ich war geschockt, zumal ich früher selbst öfter am Stützpunkt in Heidelberg trainiert habe.

Die dortige Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen drei Männer eingeleitet. Kennen Sie eines der mutmaßlichen Opfer?

Nein.

„Es gibt im Sport keinen Platz für Missbrauch“

Sie gehörten Anfang 2018 zu den Boxerinnen, von denen die Kampagne „Coach don’t touch me!“ – Trainer, berühre mich nicht! – ins Leben gerufen wurde. Wie kam es dazu?

Es wurde damals ein länger zurückliegender Missbrauchsfall bekannt, in dem eine 17-jährige Boxerin Geschlechtsverkehr mit ihrem Trainer hatte. Wir fanden es schlimm, dass sie komplett alleine gelassen und sogar als Lügnerin beschimpft wurde, vom Verband keinerlei Unterstützung bekam, ihren Sport nicht mehr ausüben konnte. Mit der Kampagne wollten wir deutlich machen: Es gibt im Sport keinen Platz für Missbrauch! Es gibt Unterstützung für Opfer, die sich trauen, den Mund aufzumachen! Und es gibt Solidarität und einen Zusammenhalt unter Boxerinnen!

Welche Reaktionen gab es auf die Kampagne?

Viele Frauen und auch einige Trainer fanden unser Engagement gut, andere haben uns dafür kritisiert, einen speziellen Coach angegriffen zu haben. Doch darum ging es uns gar nicht. Solche Vorwürfe müssen selbstverständlich die Gerichte klären. Unser Anliegen war, mutmaßliche Opfer, die sich psychisch in einer extrem schwierigen Situation befinden, zu unterstützen und aufzuzeigen, dass sie enorm angreifbar sind und deshalb Schutz benötigen.

Haben sich die Boxverbände geäußert?

Nein. Sie haben nicht einmal ein öffentliches Statement gegen sexuellen Missbrauch abgegeben oder ihren Willen bekundet, die Athletinnen zu schützen und die Vorwürfe aufklären zu wollen. Das wäre sicher nicht zu viel verlangt gewesen, passte aber zur typischen Strategie vieler Sportverbände, mit solchen Fällen umzugehen: verschweigen, vertuschen, verharmlosen.

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Sie sind daraufhin als nationale Athletensprecherin zurückgetreten.

Stimmt. Ich hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Und dass sich ohnehin nichts ändern wird, egal was ich tue oder sage. Das fand ich sehr enttäuschend, aber der Rücktritt hatte auch einen Vorteil: Seither kann ich wieder völlig unabhängig meine Meinung äußern.

„Im Boxen sind Frauen immer noch das schwache Geschlecht“

Was hat die Kampagne gebracht?

Athletinnen wissen nun, dass es jemanden gibt, den sie ansprechen können, wenn sie Hilfe benötigen. Und die Vorwürfe in Baden-Württemberg zeigen ja klar auf: Dieses Thema wird immer aktuell bleiben.

Nicht nur im Boxen.

Das ist richtig. Ich weiß aus persönlichen Gesprächen, dass es natürlich auch in anderen Sportarten derartige Probleme gibt. Allerdings begünstigen die Strukturen im stark männerdominierten Boxen sexualisierte Gewalt ganz offensichtlich. Es spielt sich viel in alten Denkmustern ab, im Boxen sind Frauen immer noch das schwache Geschlecht, deshalb würde ich schon sagen, dass Chauvinismus und Sexismus im Boxen weiter verbreitet sind als im Rest der Gesellschaft. In vielen Trainingshallen ist es unmöglich, sich als emanzipierte Frau wohlzufühlen.

Können Sie uns das genauer erklären?

Auch ich habe schon erlebt, wie über sexistische Sprüche gelacht oder einfach nur weggehört wird, während die Frauen diese Demütigungen über sich ergehen lassen. Das sind schreckliche Situationen, zumal ich nicht das Gefühl habe, dass in irgendeiner Art und Weise gegengesteuert wird. Stattdessen heißt es meist: Wir sind beim Boxen, da geht es halt so zu. Aber so etwas darf doch nicht einfach zum Alltag gehören.

Haben Sie persönlich noch mehr schlechte Erfahrungen gemacht?

Nein, und dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich selbst habe von einigen Mädchen schlimme Dinge gehört. Und die Vorwürfe in Baden-Württemberg zeigen jetzt ja wieder, dass sich nichts zu verändern scheint.

„Die Strafen müssen abschreckend sein“

Was müssten die Verbände tun?

Es gibt viele Ansatzpunkte.

Zum Beispiel?

Wir brauchen klare Regeln, die dafür sorgen, dass Täter auch mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen haben. Die Strafen müssen abschreckend sein. In dem Fall, der zur „Coach don’t touch me“-Kampagne geführt hat, waren der Trainer, der übrigens weiter im Boxsport arbeitet, und die 17-jährige Athletin bei einem Lehrgang in einem Doppelzimmer untergebracht. Ähnliches weiß ich von anderen Boxerinnen, und ich bin mir nicht sicher, ob dies heute nicht auch noch möglich ist.

Was würden Sie noch ändern?

Athletinnen, die so mutig sind, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, benötigen Ansprechpartner, denen sie vertrauen können, die sie ernst nehmen und unterstützen. Das müssen logischerweise absolut unabhängige Personen sein. Der Deutsche Boxsport-Verband aber hat, als die Einrichtung einer solchen Stelle gefordert wurde, einfach seine langjährige Verbandsärztin auch noch zur Frauenbeauftragten und zur Leiterin des Arbeitskreises Sexualisierte Gewalt ernannt. Eine derartige Struktur ergibt aus Sicht einer Athletin, die Hilfe sucht, natürlich keinen Sinn.

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Im Boxverband Baden-Württemberg trägt Fotini Böhme den Titel „Vertrauensperson Sexualisierte Gewalt“. Sie ist die Frau des früheren Leistungssport-Chefs Achim Böhme.

Noch einmal: Frauen, die sich jemanden offenbaren wollen, müssen sich absolut sicher fühlen können. Immerhin habe ich mitbekommen, dass sich Michael Müller, der Sportdirektor des DBV, jetzt bei der Athletensprecherin in Baden-Württemberg gemeldet und seine Hilfe angeboten hat. Das finde ich gut und wichtig.

Gibt es weitere Forderungen?

Die Verbände müssen die Rolle der Mädchen und Frauen stärken. Dazu gehört zum Beispiel, ihnen Schulungen darüber anzubieten, was in der Zusammenarbeit zwischen Trainer und Boxerin in Ordnung ist und was nicht. Zudem müsste natürlich versucht werden, viel mehr Frauen für den Trainerjob zu gewinnen.

„Natürlich befinden sich Sportler in einem Abhängigkeitsverhältnis“

Ist es auch ein Problem des Boxens, dass das Verhältnis zwischen Trainer und Athlet oft sehr eng ist?

Klar ist: Soll die Zusammenarbeit erfolgreich sein, müssen die beiden nicht nur viel Zeit miteinander verbringen, sondern auch ein Vertrauensverhältnis und eine sehr emotionale Bindung aufbauen. Das ist natürlich ein schmaler Grat, denn eine derart enge Beziehung kann natürlich Missbrauch begünstigen. Umso mehr braucht es klare Regeln, wie sich die Trainer zu verhalten haben.

Stattdessen ist immer wieder zu hören, dass Trainer oder Funktionäre ihre Machtposition missbrauchen.

Ich kenne keine konkreten Fälle, aber natürlich befinden sich Sportler in einem Abhängigkeitsverhältnis, das von der anderen Seite ausgenutzt werden kann.

Sie haben 2018, als die Kampagne ins Leben gerufen wurde, gesagt, dass viel zu lange geschwiegen worden ist. Hat dieser Satz immer noch Gültigkeit?

Ja. Aus meiner Sicht hat kein Wandel stattgefunden. Es ist doch schlimm, wenn junge Frauen immer noch Angst haben müssen, den Mund aufzumachen.