Der Dichter Wulf Kirsten (1934–2022) Foto: dpa/Michael Reichel

Der Dichter und Schriftsteller Wulf Kirsten ist gestorben. Seine Heimat fand er in Weimar, und Buchenwald war für ihn stets ganz nah. Ein Nachruf.

Nur wer sich verausgabt, ist wirklich frei. Wulf Kirsten hat ein ganzes Leben auf Worte gebaut, „als könnten sie bewältigen, was mir aufliegt“. Man kommt in seinen Gedichten immer einem Ursprung nahe, auch wenn nicht sofort alles kenntlich wird. Abkunft hieß für diesen Dichter eine abgestufte Dreieinigkeit von Landschaft, Geschichte und Biografie.

Sein erster Gedichtband erschien 1970

1934 „geboren zu Klipphausen, zwei morgen wind / hinterm haus …“ Dresdner Hinterland, linkselbisch bei Meißen. Die Dorfkindheit bekam prosaische Genauigkeit im Band „Die Prinzessinnen im Krautgarten“. Sohn eines Steinmetzen, ältestes von fünf Kindern. Der Krieg ging über alles hinweg, das Kriegszittern blieb, so im Gedicht „dorfkindheit, vom krieg überrollt“: „das knirschen von panzerketten / im ohr verfangen auf lebenszeit.“ Krieg und Nachkrieg hießen Einschränkung, Verlust. Durchkommen war alles. Kaufmannsgehilfe, Buchhalter, spätes Abitur, Studium in Leipzig. Lehrer blieb er kurz, Lektor länger. Wortsammler, Dichter und Erzähler lebenslang. Er fand, entdeckte sich und war etwas.

1970 erschien sein erster Gedichtband: „satzanfang“. Seitdem war er, was er immer werden wollte: Ein Dichter. Noch dazu in Weimar: „welch zweifelhaftes vergnügen,/ die welt von Weimar aus zu betrachten.“ Hier ist der Weg zum Lager Buchenwald kurz. Seine Texte im Band „Der Berg über der Stadt – Zwischen Goethe und Buchenwald“ sind ein Aufbäumen gegen die Nähe von Klassik und moderner Barbarei. Es gab für Kirsten keine Gegenwart ohne Wort- und Zeitgedächtnis. Die „Anthologie des poèmes de Buchenwald“ von André Verdet hat er dem deutschen Vergessen entrissen.

Der Dichter ging übers Land

Mit dem Gedichtband „die erde bei Meißen“ gelang 1987 der Durchbruch im Westen, gespiegelt im Peter-Huchel-Preis. Nach neun Gedichtbänden zeigte sich mit „erdlebenbilder“ (2004) sein lyrisches Werk aus fünfzig Jahren. Das Spätwerk vereint die Bände „fliehende ansicht“ und „erdanziehung“. Kirsten ging über Land, vom Meißnerischen und Weimarer Land bis zum Rhônetal.

Wie aus einem „querfeldein“ ein „querweltein“ werden konnte, wurde nie deutlicher. Lange Poetenblicke auf das Menschenwerk der Zerstörung. „erdlebenbilder, abgewuchtet, / abgeweidet, mondgefleckter abend, wie er / schöner nie wieder sein kann, die nachtvögel / riefen sich zu, daß dir bang wurde.“ Zur Natur pflegte er Beziehungen ohne Ambivalenz, hier emanzipierte sich die existenzielle Angst. Sie verlor an Destruktion, kam zur Ruhe: „das unfaßbare ohne anfang ohne ende, / des himmels langer atem gefüllt / mit luft und licht, in sichtigen / fernen eine kette von höhenzügen.“ So spricht kein entrückter Landschafter, hier warf sich einer in den Traditionsverkehr der Poesie, der Hochkultur ebenso verbunden wie dem Expressionismus. Aber er ging keine Wege, die andere vorangegangen waren. Schulen folgte er nicht, auch keiner „Sächsischen Dichterschule“, stand aber in Korrespondenz.

Er kannte alles und alle

Auch zur zweiten deutschen Diktatur erhob Kirsten die Stimme. Bedrängnis ragt in die Verse, „zur zeit der bruderküsse“ wird die Wirklichkeit nicht weggedichtet. Schon in frühen Gedichten will er „hartnäckig verteidigen / das bollwerk der zweifel.“ Kurz vor der Wende heißt ein Gedicht der Ohnmacht und Wut „muttersprache“: „abberufenes, abgesoffenes schweigen, ausgebootet, aus-/ gebürgert, abgeschoben, abgezogen, nur nicht amtsenthoben.“

Legendär bleibt die Genauigkeit seines literarischen Wissens. Er kannte alles und alle. Unter seinen Herausgeberschaften bleibt „Beständig ist das leicht Verletzliche – Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan“ ein exklusives Standardwerk. Kirsten war Mitglied der Akademien in Darmstadt, Berlin, Mainz und Dresden. Unter den Ovationen leuchten der Huchel-Preis, Heinrich-Mann-Preis und Breitbach-Preis hervor. Aber besonders erfüllte ihn: Seine Dichtung gilt in Frankreich viel.

Wulf Kirsten ein seltener Dichter, dem Leben und der Welt zugewandt, zugleich umschlossen von der Unität seines Schaffens, ist am Mittwoch im Alter von 88 Jahren in Weimar gestorben.

Jetzt erkennt man, wie gelungen vieles ist.