Der Mann, dem der Mord vorgeworfen wird, wird nur für wenige Minuten in den Saal gebracht. Foto: dpa/Julian Rettig

Die Verhandlung über einen der größten Kriminalfälle des vergangenen Jahres kann am Mittwoch nicht beginnen. Der Grund ist die Vergesslichkeit eines Beteiligten.

Die Männer aus dem Umfeld des Angeklagten wollen die wenigen Augenblicke nutzen, den 33-Jährigen zu sehen. Sie haben sich extra links vorne hingesetzt im Saal 6 des Stuttgarter Landgerichts. Dort ist ein schmaler Spalt, wo der Gang in den Saal mündet, bevor der Mann wieder hinter einer Wand verschwindet. Doch nur beim Hereinführen des mutmaßlichen Mörders können sie ihn sehen, und wenige Minuten dann noch auf der Anklagebank. Dann schickt der Vorsitzende Richter schon das Publikum wieder hinaus – und merkt sofort, was die Männer vorhaben: Warten auf die zweite kurze Chance des Blickkontakts. „Gehen sie zügig raus“, fordert er sie scharf auf.

Die Sitzung der 1. Großen Strafkammer ist vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Der Mord an einer 32-jährigen Frau hätte verhandelt werden sollen. Sie war im vergangenen Sommer tot in einem Parkhaus in Bad Cannstatt gefunden worden. Schnell kam ihr Ehemann in Verdacht, von dem sie getrennt lebte. Er war nach der Tat geflüchtet, kehrte aber wenige Wochen später nach Deutschland zurück und stellte sich. Dem 33-Jährigen wird vorgeworfen, die Frau ermordet zu haben. Zur Anklageverlesung kam es aber nicht. Denn ein Schöffe hatte den Prozessauftakt vergessen. Er habe den Termin „total verschwitzt“, gab der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen zu Protokoll. Statt im Saal 6 des Stuttgarter Landgerichts saß er in Nonnenhorn am Bodensee – im Urlaub.

Angespannt hatten die Angehörigen des Opfers und die Familie des Beschuldigten im Gerichtssaal auf den Beginn des Prozesses gewartet – mehr als eine halbe Stunde lang. Dann kam der der Vorsitzende Richter der 1. Großen Strafkammer, Joachim Holzhausen, mit der unvollständig besetzten Kammer und der schlechten Nachricht: Das Verfahren muss unterbrochen werden. Denn die Kammer muss in der angekündigten Form besetzt sein, mit den zwei Schöffen neben den Berufsrichtern. Nun soll es am Mittwoch, 1. März, weitergehen – dann wohl endlich mit der Anklageverlesung.

Der Abend, an dem die Tote entdeckt worden war, war ein schlimmer für die Stuttgarter Polizei. Drei Tote innerhalb weniger Stunden wurden in der Stadt gefunden: Die zwei toten Wirte im italienischen Lokal in der City, bei denen man bis heute nicht eindeutig weiß, wie sie zu Tode kamen. Und dann noch die junge Frau, die zwei kleine Kinder hinterließ – und erschossen im Auto lag. Das Fahrzeug war in einem Parkhaus des Autoherstellers Mercedes in Bad-Cannstatt entdeckt worden. Schon früh kam der Ehemann in Verdacht – zumal er sich schnell ins Ausland absetzte. Beide Familien, die der Frau und die des Mannes, haben türkische Vorfahren und Verwandte dort. Der Polizei war bald klar, dass er sich dorthin begeben hatte.

Bei einer Pressekonferenz im vergangenen Sommer zum Thema Femizid war der Präsident des Landgerichts Stuttgart, Andreas Singer, auch auf diesen Fall eingegangen. Der Fall war im vergangenen Sommer nicht so stark im Fokus der Öffentlichkeit, weil das Rätsel der beiden toten Wirte das vorherrschende Gesprächsthema war. Dennoch war es dem Gerichtspräsidenten wichtig, Fälle wie diesen hervorzuheben: Femizide nennt man Fälle, in denen Frauen aufgrund ihres Geschlechts umgebracht werden. Oft gibt es frühe Warnzeichen. Singer betonte, dass es wichtig sei, den für manche leicht sperrigen Begriff Femizid zu verwenden – damit man das Problem benennen und bewusst machen kann.

Im vorliegenden Fall kam der Mann nach ein paar Wochen auf der Flucht zurück nach Deutschland. Seit August 2022 sitzt er in Untersuchungshaft. Wie er sich bislang zu den Tatvorwürfen geäußert hat, ist nicht bekannt. Auch das dürfte herauskommen, wenn die Kammer in der kommenden Woche in das Verfahren einsteigt. Verwandte der Frau treten in dem Verfahren als Nebenklägerinnen auf.