Sprachlosigkeit im Privaten wie im Politischen: Kurt (Sylvester Groth) und seine russische Ehefrau Irina (Evgenia Dodina) haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Foto: Hannes Hubach/X-Verleih Quelle: Unbekannt

Berlin - Eugen Ruges Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ war 2011 ein Riesenerfolg, doch er galt lange als nur schwer verfilmbar. Regisseur Matti Geschonneck und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase haben sich dennoch an eine Leinwandbearbeitung gewagt. Erzählt wird die Geschichte des Partei- und Familien-Patriarchen Wilhelm Powileit, der im Herbst 1989 seinen 90. Geburtstag feiert, als ob nichts wäre - dabei ist der Untergang der DDR längst eingeläutet. Neben Bruno Ganz in der Rolle des Jubilars brilliert der Schauspieler Sylvester Groth als Wilhelms Stiefsohn Kurt. Im Gespräch mit unserer Zeitung erzählt Sylvester Groth über seine Arbeit am Film und über die Aktualität der Geschichte.

Matti Geschonnecks Film klingt im Zuschauer lange nach. Wenn man Sie auf der Leinwand erlebt, hat man das Gefühl, dass sie die Rolle des Kurt nicht nur spielen, sondern leben. Was hat Sie an dieser Geschichte und an der Rolle gereizt?

Groth: Die Entscheidung für dieses Projekt fiel mir nicht schwer, weil ich wusste, dass alles stimmt. Eine starke Buchvorlage, ein überzeugendes Drehbuch, ein grandioser Regisseur und fantastische Kollegen - bessere Voraussetzungen findet man selten. Dieser Film ist bis in die kleinsten Rollen vorzüglich besetzt. Man spürt, dass man es mit Menschen in all ihren Schattierungen zu tun hat. Und auch wenn einzelne Rollen noch so klein wirken mögen, hat jede ihre Bedeutung.

Das ist bei diesem Film umso wichtiger. Er erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern lässt en passant Stimmungen und Zeitkolorit während der Endzeit der DDR lebendig werden…

Groth: Dabei scheint es um diesen Aspekt vordergründig gar nicht zu gehen. Es geht um die Geburtstagsfeier und darum, welche Probleme all diese Menschen, die dort aufeinander treffen, miteinander und mit sich selbst haben. Der Film lässt jedem den nötigen Raum, sich seine Gedanken zu machen und eigene Erfahrungen einzubringen. Plötzlich tut sich ein Fenster auf, durch das wir den Untergang einer ganzen Epoche beobachten. Manchmal ist es die wahre Kunst, sich zurückzunehmen und das eine oder andere wegzulassen, weil das viel hilfreicher für die Erkenntnis sein kann. Ich will nicht beeindrucken, sondern meiner Figur gerecht werden. Das gilt für die Rolle des Kurt besonders, der eine unglaubliche Lebensgeschichte hat und nicht mal drüber reden darf. Diese Sprachlosigkeit ist beklemmend. So entsteht über die Familiengeschichte hinaus ein Gesellschaftspanorama.

Deshalb ist jede noch so kleine Rolle wichtig: Jede Figur fügt einen weiteren Aspekt hinzu …

Groth: … und alles zusammen lässt einen spüren, wie verkarstet das in der untergehenden DDR war. Nur leere, tote Rituale. Man sieht es nicht, aber man glaubt zu spüren, weshalb alles untergehen musste. Das ist das Geheimnis dieses Films.

Braucht man als Schauspieler die eigene DDR-Erfahrung, um diese Figuren adäquat zu spielen?

Groth: Nein. Schauen Sie sich nur Bruno Ganz oder Hildegard Schmahl an: Es ist gigantisch, wie die spielen. Vielleicht gelingt ihnen das, gerade weil sie von solchen Erfahrungen nicht infiziert sind. Sie spüren instinktiv: Man kann ja immer nur einen Menschen spielen. Den Rest machen Regie, Kamera, Ausstattung und Drehbuch. Man muss einfach das spielen, was geschrieben steht - ohne etwas wegzulassen und ohne etwas hinzuzufügen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegen muss. Das ist das Einfachste und Schwierigste zugleich. Das größte Kompliment ist, wenn ein Zuschauer das Gefühl hat, dass er am liebsten über jede Figur einen eigenen Film sehen würde.

Die DDR ist Geschichte. Brauchen wir trotzdem noch solche Filme?

Groth: Ja. Es geht nicht darum, nur Fakten, die man in Geschichtsbüchern nachlesen kann, aufzureihen. Wichtig ist, dass man ein Verständnis für das entwickelt, was damals war und was nicht war. Es gibt noch so viele Geschichten, die unbedingt erzählt werden müssen, weil sie tiefere Einblicke eröffnen können.

Wilhelm kämpft als Sozialist für eine Ideologie, die bessere Menschen hervorbringen will. Seine Familie behandelt er unmöglich und denunziert damit all diese Ideale …

Groth: Ja, aber auch er ist nur ein Mensch mit allen Verletzungen und Beschädigungen, die ihm das Leben zugefügt hat. Das macht diese Figur zeitlos interessant: Menschen, die all das, was sie selbst nicht haben durften, nicht zulassen können, gab und gibt es zu allen Zeiten. Ich will nicht wissen, was solche Menschen im Exil oder gar im KZ erlebt haben. Dann sollten sie einen neuen Staat aufbauen, ohne ihre eigene Vergangenheit aufgearbeitet zu haben. Wie soll das gehen? Sie wurden ins kalte Wasser geworfen, also griffen sie auf die Mechanismen zurück, die sie kannten. Sie hatten ein Ideal, das sie nicht vermitteln konnten, weil sie gar nicht in der Lage waren, es selbst zu leben. Das kann ja nichts werden. Ich will ganz bestimmt nicht verteidigen, was da geschehen ist. Ich will es nur verstehen, weil es in unterschiedlicher Intensität in jeder Gesellschaft so war und ist. Anhand von Familien kann man konstatieren, wie der Zustand einer Gesellschaft ist. Wenn es in der Familie schon nicht mehr klappt, wie soll es dann in einer Gesellschaft klappen? Das hat sich über die Jahrtausende nicht wesentlich verändert. Mal ist es schöner, mal ist es schlimmer, aber das Neue baut immer auf dem Alten auf.

Im Film heißt es: „Wenn es kein Brot gibt, kann man Kartoffeln essen. Wenn es keine Ideen mehr gibt, gibt es gar nichts mehr.“ Hat das nicht auch mit uns zu tun?

Groth: Dieser Film kommt zur rechten Zeit, weil er uns mahnt: Ist es heute wirklich ganz anders? Dann macht was! Es ist ja kein Zufall, dass viele Filme solche Gedanken aufgreifen. Nicht nur bei uns, sondern gerade auch in den USA, wo viele Menschen das Gefühl haben, dass sie nicht einfach zuschauen dürfen, was ihr Präsident so tut.

Da ist es umso problematischer, dass wir auf dem Weg in eine kulturlose Gesellschaft sind …

Groth: Wir sind eine kulturlose Gesellschaft. Man muss nur schauen, wo als erstes gespart wird - dabei brauchen wir Kultur heute nötiger denn je, weil sie die Gesellschaft zusammenhält. Man kann sich über das Alltägliche hinaus austauschen, sich gegenseitig Mut machen und gemeinsam auf Ideen kommen - all das gehört zur Kultur und macht sie so wichtig. Wir sind doch nur noch Handybesitzer, die den ganzen Tag an irgendwelchen Geräten hängen, weil wir glauben, etwas zu verpassen. So ein Quatsch. Diese Vereinzelung tut dem Individuum, aber auch der Gesellschaft insgesamt, nicht gut. Viele leben nur noch von heute auf morgen und haben gar keinen Blick mehr für die reiche Kulturtradition, die wir in Deutschland haben. Ohne Kultur wird alles nur noch primitiv und roh. Das werden auch diejenigen zu spüren bekommen, die heute noch glauben, Kultur sei gar nicht so wichtig. Darauf müssen wir uns wieder besinnen, weil ohne Kultur alles irgendwann den Bach runtergeht.

Interview: Alexander Maier

Wissenswertes zu Darsteller und Film

Der Film: Wilhelm (Bruno Ganz) war in der SED eine große Nummer - nun ist er 90 und will mit Freunden, Weggefährten und Parteikadern seinen 90. Geburtstag feiern. Dass seine Familie mit ihm feiert, ist ihm weniger wichtig, weil er zu den meisten ein gebrochenes Verhältnis hat. Wilhelm war einst im mexikanischen Exil, nach seiner Rückkehr hat er die DDR mit aufgebaut. Und er glaubt fest an den Sozialismus. Dass die DDR in Wilhelms Jubeljahr 1989 abgewirtschaftet hat, erkennt er wie viele in der Partei nicht. Wilhelm und seine Frau Charlotte (Hildegard Schmahl) sind einander in inniger Verbitterung verbunden, doch an seinem Ehrentag ist heile Welt angesagt. Charlotte hofft auf die Familie: Ihr Sohn Kurt (Sylvester Groth), der 1956 aus den Arbeitslagern der UdSSR nach Ostberlin gekommen ist, Kurts russische Ehefrau Irina (Evgenia Dodina) und Enkel Sascha (Alexander Fehling) sollen für ein parteikonformes Jubiläumsspektakel sorgen. Doch mitten im Defilee der Gratulanten platzt die Bombe: Sascha ist in den Westen geflohen. Je länger das Fest dauert, desto mehr unliebsame Wahrheiten kommen auf den Tisch, der unter der Last zusammenbricht. Die Veränderung ist nicht mehr aufzuhalten - es ist die Zeit des abnehmenden Lichts.

Der Darsteller: Sylvester Groth wurde 1958 in Sachsen-Anhalt geboren, studierte an der Staatlichen Schauspielschule Berlin und spielte seit den frühen 80er-Jahren an namhaften Bühnen in Berlin, Dresden, München und Wien sowie bei den Salzburger Festspielen. Groth war in vielen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen - unter anderem in Tarantinos „Inglorious Basterds“. In Matti Geschonnecks Film „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ spielt er Kurt, Charlottes Sohn aus erster Ehe, der 1941 im sowjetischen Exil eingesperrt worden war, weil er den Freundschaftsvertrag zwischen Hitler und Stalin kritisiert hatte.