Bettina Severin-Barboutie liest am Mittwoch im Stadtarchiv aus ihrem Buch. Foto: Rolf K. Wegst

Eine Wissenschaftlerin arbeitet die Geschichte der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in Deutschland auf und berichtet in Stuttgart über hiesige Besonderheiten.

Stuttgart - Auf welchen Wegen kamen Gastarbeiter ab den 1950er Jahren nach Stuttgart? Was trieb sie an? Wie veränderte sich dadurch das Bild der Stadt? Für die Historikerin Bettina Severin-Barboutie, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, ist Stuttgart „beispielhaft für die Bevölkerungsbewegungen in den Nachkriegsjahrzehnten“. In einer groß angelegten Studie hat die Wissenschaftlerin am Beispiel der baden-württembergischen Landeshauptstadt sowie der französischen Metropole Lyon sowohl die Migrationsströme als auch deren Auswirkungen auf die beiden Städte untersucht und verglichen. Ein Vortrag im Stadtarchiv Stuttgart soll nun Einblicke in ihre Forschungsergebnisse bieten.

Mit dem Start des Anwerbeabkommens für italienische Gastarbeiter 1955 begann nach dem Zweiten Weltkrieg ein kontinuierlicher Zustrom ausländischer Arbeitsmigranten nach Deutschland. Stuttgart mit seiner starken, exportorientierten Wirtschaft, die bereits in den 50er und 60er Jahren vergleichsweise hohe Löhne bot, seiner Lage inmitten einer zentralen europäischen Grenzregion und der guten verkehrstechnischen Anbindung entwickelte sich schon bald zu einem bevorzugten Anlaufpunkt für Migranten aus ganz Südeuropa. „Für beide Städte befindet sich die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Migration noch in den Anfängen“, erklärt die Historikerin.

Blick von oben herab

Ein Aspekt ihrer Forschung, die Bettina Severin-Barboutie in ihrem Buch „Migration als Bewegung am Beispiel von Stuttgart und Lyon nach 1945“ zusammengefasst hat, beschreibt die Begrüßungsinszenierungen an den Bahnhöfen in Deutschland durch die bundesrepublikanischen Behörden, wie sie auch am Stuttgarter Hauptbahnhof stattgefunden haben. „Baden-Württemberg hat sich damit als wirtschaftsstarkes Bundesland auch selbst gefeiert“, so die Interpretation der Historikerin. Auffällig, sagt die Wissenschaftlerin, sei, dass die dabei als Willkommensgeschenke überreichten Konsumgüter schon nicht mehr dem deutschen Standard entsprachen. So habe in Stuttgart, als dort im August 1970 der Jugoslawe Zvonimir Kanjir als 500 000. Arbeitsmigrant geehrt wurde, dieser ein Transistorradio (und eben keinen Fernseher) überreicht bekommen. „Die Angekommenen waren Statisten der Inszenierung“, betont die Historikerin. Kritische italienische Journalisten erkannten schon damals – anders als ihre deutschen Kollegen – den „hegemonialen Blick“ Deutschlands auf die Gastarbeiter und ihre Herkunftsländer.

Assoziationen von Menschentransporten

Wichtig sei die Erkenntnis, dass Migration keine „geradlinige Bewegung von A nach B“ ist, resümiert Severin-Barboutie. „Es gibt ein Davor und Danach.“ So verweist die Geschichtswissenschaftlerin darauf, wie italienische, griechische und türkische Gastarbeiter, die in den 60er Jahren über das Drehkreuz München nach Stuttgart reisten, nicht den Münchner Bahnhof verlassen durften, weil man befürchtete, dass der Anblick der ärmlich gekleideten Gastarbeiter im In- und Ausland Assoziationen von Menschentransporten hervorrufe, inklusive der Parallelen zur NS-Vergangenheit. Um „Imageschäden“ zu vermeiden, wurden die wartenden Migranten in einen Luftschutzbunker des Bahnhofs geführt. Auch erinnert die Wissenschaftlerin an einen Fall von gewerbsmäßigem Menschenhandel, der Stuttgart in den 1970er Jahren erschütterte.

Buchvorstellung im Stadtarchiv

Die Buchvorstellung und der Vortrag „Migration als Bewegung am Beispiel von Stuttgart und Lyon nach 1945“ findet am Mittwoch, 30. September, ab 19 Uhr im Stadtarchiv im Bellingweg 21 statt. Es wird um Anmeldung gebeten unter Telefon 07 11/21 69 15 12 oder E-Mail an poststelle.stadtarchiv@stuttgart.de.