Foto: Roberto Bulgrin

Ein Mann soll am Esslinger Bahnhof einen 19-Jährigen mit mehreren Messerstichen in den Oberkörper lebensgefährlich verletzt haben. Der 26-jährige, mutmaßliche Täter muss sich seit Montag vor dem Landgericht wegen versuchten Totschlags verantworten. Zum Auftakt wurde deutlich, was Anlass für die Attacke.

Esslingen - Ein Streit auf dem Esslinger Bahnhof endete blutig. Die Folge: Ein 26-jähriger Mann muss sich vor dem Landgericht Stuttgart wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags verantworten. Er soll einen 19-Jährigen mit mehreren Messerstichen in den Oberkörper lebensgefährlich verletzt haben, sodass der Geschädigte nur durch eine Notoperation am Klinikum Esslingen gerettet werden konnte. Zum Prozessauftakt am Montag machten der mutmaßliche Täter, das Opfer, Zeugen sowie ermittelnde Polizeibeamte ihre Aussagen. Ein Urteil gibt es noch nicht: Denn vor der neunten Großen Strafkammer des Schwurgerichts sind drei weitere Verhandlungstage montags am 9., 16. und 23. März jeweils um 9.15 Uhr angesetzt.

Die Tat wurde nicht bestritten. Der 1993 im Irak geborene Angeklagte schilderte ausführlich in arabischer Sprache und übersetzt durch einen Dolmetscher seinen Lebenslauf, die Vorgeschichte des Streits und den Verlauf der Auseinandersetzung, die am Samstag, 12. Oktober 2019, gegen 22 Uhr blutig endete. Vor fünf Jahren, so erklärte der junge Mann, hatte er als 22-Jähriger sein Heimatland verlassen: „Es hat mir dort nicht mehr gefallen.“ Zudem hätte die viele Jahre zuvor erfolgte Trennung seiner Eltern ihn schwer belastet. Über die Türkei kam er nach Deutschland, ein Asylantrag wurde abgelehnt, er konnte aber mittels einer Duldung bleiben. Nach verschiedenen Jobs besuchte der junge Mann zum Zeitpunkt der Tat einen Sprachkurs, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern.

Zwei Tage vor der Tat war es laut der Schilderung des sehr jugendlich und unbedarft wirkenden Beklagten zu Querelen mit dem Geschädigten gekommen: Er habe von dem späteren Opfer Drogen für 50 Euro gekauft. Nach dem Handel sei ihm aber aufgefallen, dass der andere ihn wohl über das Ohr gehauen und ihm zu wenig illegale Betäubungsmittel für das Geld gegeben habe. Nach telefonischen Diskussionen sei es am Vortag der Tat zu einem erneuten Treffen zwischen mutmaßlichem Täter, späterem Opfer und einem gemeinsamen Bekannten gekommen. Im Verlauf dieser Zusammenkunft vor einem Einkaufsmarkt in Esslingen erhielt der 26-Jährige nach eigenen Angaben sein Geld im Austausch gegen die Drogen wieder zurück. Zunächst sah alles nach einer Beruhigung der Lage und einer Versöhnung aus.

Doch am 12. Oktober letzten Jahres, einen Tag nach der Aussprache, kam es zu einer weiteren Begegnung von Beschuldigtem, Geschädigtem und dem gemeinsamen Bekannten auf dem Bahnhof in Esslingen. Verbale Attacken und gegenseitige Beleidigungen mündeten in einen handfesten Streit. In dessen Verlauf zog das spätere Opfer wohl ein Messer und ein Pfefferspray, das er dem Angeklagten in die Augen sprühte. Der 26-Jährige zückte daraufhin eigenen Angaben zu Folge seinerseits ein Messer und stach mehrfach auf sein Opfer ein, wobei ein Stich knapp über dem Herzen traf.

Nach Aussage des Opfers, einem 19-Jährigen aus Syrien, bemerkte er zunächst nichts von den schlimmen Stichwunden. Erst als ihn sein Begleiter auf das Blut an der Kleidung aufmerksam machte, wurde er sich der Schwere seiner Verletzungen bewusst. Zusammen mit seinem Begleiter stieg er in ein Taxi und fuhr zum Klinikum Esslingen, wo er bewusstlos zusammenbrach. Durch eine Operation konnte das Leben des Geschädigten gerettet werden. Eine Woche musste er im Krankenhaus bleiben.

Zeugenaussagen, auch vom Geschädigten, und Videoaufnahmen vom Tatort konnten die Aussagen des Beschuldigten weitgehend bestätigen. Allerdings stritt das Opfer vehement ab, in Drogengeschäfte verwickelt gewesen zu sein. Jörg Geiger, der vorsitzende Richter, nahm den Geschädigten streng ins Gebet. Er verwies auf das zuvor mehrfach angesprochene und durch einen Dolmetscher übersetzte Zeugnisverweigerungsrecht, falls er sich durch seine Aussage selbst belasten sollte, und der Richter erläuterte, dass sich der zuvor wegen schweren Raubes verurteilte Geschädigte nur zur Bewährung auf freien Fuß befinde. Auch die Kritik des Geschädigten an seiner Fragestellung, das hartnäckige Leugnen der Drogengeschäfte und der mehrfache Hinweis auf Gedächtnislücken missfielen dem Juristen: „Das ist eine Unverschämtheit.“

Uneinigkeit herrschte zudem darüber, ob das Opfer den Angeklagten vor dessen Attacke mit einem Messer angegriffen hatte. Hierzu gab es widersprüchliche Aussagen, und der Vorgang war auf dem Video nicht klar zu erkennen. Klar zu erkennen war aber, dass der Geschädigte dem Beschuldigten mit einem Pfefferspray in die Augen gesprüht hatte.

Nach der Tat konnte das Opfer noch im Krankenhaus Angaben zur Person seines Kontrahenten machen: Wie eine Polizeibeamtin aussagte, wurde der 26-Jährige in einer Asylbewerberunterkunft in einem Esslinger Stadtteil festgenommen, und bei der Durchsuchung seines Zimmers wurden mehrere Messer gefunden. Er befindet sich seither in Untersuchungshaft.