Eine Studie zeigt die massive Überlastung des Personals beim Jugendamt. Manche Aufgaben mussten zurückgestellt werden. Was bedeutet das für den Kinder- und Jugendschutz? Und wie geht es nun weiter?
Die Zahl ist erschreckend. Den Beratungszentren des Jugendamts der Stadt Stuttgart fehlen aktuell 110 Stellen. Konkret geht es um 101 fehlende Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst und knapp neun Stellen beim Fachdienst Jugendhilfe im Strafverfahren. Das ist das Ergebnis einer Studie, die in dieser Woche im Jugendhilfeausschuss des Gemeinderats erstmals öffentlich vorgestellt worden ist.
Die Landeshauptstadt war zu der Erhebung verpflichtet. Denn mit der Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes im Juni 2021 sieht 79 Absatz 3 im Sozialgesetzbuch vor, dass die öffentlichen Träger der Jugendhilfe sogenannte Personalbemessungsverfahren veranlassen, um im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung eine ausreichende Personalausstattung zu gewährleisten.
Insgesamt 110 neue Stellen – angesichts dieser Zahl fragt man sich, wie die Beratungszentren in den vergangenen Jahren überhaupt ihre Arbeit haben machen können. Die Antwort gab die zuständige Bürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) selbst: „Es mussten Prioritäten gesetzt und andere Aufgaben zurückgestellt werden.“
So lag der Fokus auf dem Kinderschutz. Im Bereich Prävention konnte hingegen nur wenig gemacht werden. Das betrifft zum Beispiel die Willkommensbesuche. Das Ziel des Jugendamts ist es, dass Fachkräfte alle Familien besuchen, die ein Kind bekommen haben. Sie haben ein Geschenk dabei und nehmen sich Zeit, um Fragen der frischgebackenen Eltern zu beantworten. Wenn es Probleme gibt, empfehlen sie Angebote.
Die Willkommensbesuche sind Teil der Frühen Hilfen. Im Grunde geht es darum, bei den Familien zu Hause vorbeizuschauen, um zumindest im Rahmen einer Momentaufnahme zu prüfen, ob prinzipiell in den Familien alles in Ordnung ist. Doch nur 44 Prozent der Familien haben zuletzt einen solchen Willkommensbesuch erhalten. „Damit sind wir nicht zufrieden“, sagte die Jugendamtsleiterin Katrin Schulze. Auch diese präventiven Aufgaben seien nicht einfach „nice to have“, stellte Fezer klar. Denn unter anderem dank der Willkommensbesuche werde das Jugendamt bei den Eltern anders wahrgenommen – nämlich als ein Angebot und nicht als eine Bedrohung.
Viel mehr Meldungen zum Thema Kindesmisshandlung
Die enorme Belastungssituation in den Beratungszentren ist auch entstanden, weil die Zahl der Meldungen zum Thema Kinderschutz enorm gestiegen ist. So waren es 1097 Meldungen zum Thema Kindesmisshandlung (einschließlich Vernachlässigungen und Verdachtsfällen) im Jahr 2013. Zehn Jahre später waren es 2418 Meldungen, also mehr als doppelt so viele. „Die Gesellschaft hat sich gewandelt“, begründete Isabel Fezer diesen Anstieg und verwies unter anderem auf große gesellschaftliche Herausforderungen wie die Coronapandemie und Zuwandererfamilien, die ihre eigenen Probleme und Bedürfnisse mitbringen würden. Schulze ergänzte, dass die Gesellschaft auch viel sensibilisierter geworden sei und viel mehr Vorfälle als früher angezeigt werden würden.
Dringender Handlungsbedarf besteht in den Beratungszentren auch wegen der Personalfluktuation. Derzeit gebe es einen Generationenwechsel im Jugendamt, sagte Schulze. Die geburtenstarken Jahrgänge, die viel Erfahrung und Routine mitbringen und so viel auffangen könnten, gehen nach und nach in Rente. So werde das System immer wackeliger, die Arbeitsbelastung immer höher. Man sei in die Überforderung geraten, es könne nicht weiter optimiert werden. Pro Jahr würden etwa 60 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geschult, weil sie eine neue Stelle beim Jugendamt antreten. Grund für die hohe Fluktuation sei auch, dass die Neuzugänge in ein überlastetes System kommen würden.
„Diese Mangelressourcenverwaltung muss ein Ende haben“, konstatierte Isabel Fezer. Allerdings sei es nicht möglich, alle 110 Stellen auf einmal zu schaffen. Darum sollen in einer ersten Tranche 37,5 neue Stellen ausgeschrieben und besetzt werden, davon drei in der Jugendhilfe im Strafverfahren und 3,5 Leitungsstellen und eine Stelle für die Evaluation des Prozesses. Dieser Personalzuwachs „ist wegen der gesetzlichen Vorgaben zur ordnungsgemäßen Sicherstellung der Aufgabenerfüllung unabweisbar und im Vorgriff zu schaffen“, heißt es im Beschlussantrag für den Gemeinderat.
Die erste Tranche soll eine spürbare Entlastung bringen. Wenn all diese Stellen besetzt sind, möchte die Stadtverwaltung dem Gemeinderat einen Vorschlag für die Umsetzung der weiteren Tranchen noch im Jahr 2025 zur Beschlussfassung vorlegen. Der Jugendhilfeausschuss begrüßte dieses Vorgehen einhellig, der Gemeinderat soll am 24. Oktober beschließen.
Wie die neuen Stellen besetzt werden sollen
Katrin Schulze ist optimistisch, dass die Stellen schnell besetzt werden können. Diese seien gut eingruppiert, das Jugendamt habe gute Programme zur Personalgewinnung und die Beratungszentren hätten ein gutes Einarbeitungskonzept. Zudem werde man sich für verwandte Berufsbilder öffnen, zum Beispiel in Richtung Kindheitspädagogik.