Scorsese 2020 in Palm Springs Foto: dpa/J. Strauss

Martin Scorsese, ein Kind New Yorks und der Schöpfer von Meilensteinen des US-Kinos wie „Taxi Driver“ und „ Casino“, wird am 17. November 80.

Schweißgebadet schreckt Charlie (Harvey Keitel) aus einem Albtraum hoch und stolpert vom Bett zum Spiegel. „Du büßt nicht in der Kirche für deine Sünden, du büßt auf der Straße! Zuhause! Der Rest ist Bullshit und du weißt es!“, hat ihm eine Stimme zugeraunt. Jetzt blickt Charlie mit weit aufgerissenen Augen ins silbrige Glas, ein fiebriges Augenpaar starrt zurück.

Charlie seufzt, lässt sich zurück auf seine Matratze sinken und blinzelt ins Halbdunkel. Dann, aus der Ferne, die ersten klatschenden Schläge des Ronettes-Hits „Be my Baby“. Schnitt. Super-8-Schnipsel von Charlie, der mit anderen Männern auf der Straße lungert. Bilder einer Party zu einer Kindstaufe. Charlie und eine hübsche Frau, die lächelnd Sahnetorte essen. Charlie, der einem Priester die Hand schüttelt, später durch eine Menschenmenge läuft, vorbei an Luftballons.

Scorsese erzählt oft aus einem Milieu, das er gut kennt

Die Eröffnung von Martin Scorseses Gangsterdrama „Mean Streets – Hexenkessel“ von 1973 gehört zu den schönsten und intimsten des US-Kinos. Abgestimmt auf die knappen, emotional prallen drei Minuten des Ronettes-Songs dringt Scorsese mit wenigen Sequenzen tief in den Alltag eines einfachen Italo-Amerikaners ein, der in den 1960ern in die Cosa Nostra gezogen wird. Scorsese, am 17. November 1942 als Kind italienischstämmiger Arbeiter in Queens geboren und später in Little Italy aufgewachsen, kennt die Straßen des Viertels gut.

„Hexenkessel“ war nach ersten Filmen wie „Who’s that knocking at my Door?“ (1967) und „Die Faust der Rebellen“ (1972) Scorseses Durchbruch als Autor. Seine Karriere verlief über die Jahre aber nie als reine Erfolgsstory, sondern war auch durch kommerzielle Flops gekennzeichnet. Doch „Hexenkessel“ ist ein erstes Meisterwerk mit lebendigen Menschen als Protagonisten, mit tobenden, wütenden, erschöpften Männern, die sich in der doppelmoralischen Hölle von Little Italy beweisen müssen – als Mobster, Katholiken, Liebhaber, Ehemänner, Söhne, Vorbilder, Ernährer.

Lieblingsschauspieler sind Robert De Niro und Leonardo DiCaprio

Kaputte, zerrissene und traurige Kerle porträtiert Scorsese in vielen weiteren Werken, oft mit wiederkehrenden Schauspielern. Robert De Niro zum Beispiel läuft unter Scorseses differenzierter Charakterregie mehrfach zur Höchstform auf; Filme wie der knallharte „Taxi Driver“ (1976) über die Amok-Selbstjustiz eines Vietnam-Veteranen oder das aufwühlende Boxer-Porträt „Wie ein wilder Stier“ (1980) zeigen die extremen Nachtseiten des American Way of Life. Mit seinen Mafia-Epen „Good Fellas“ (1990), „Casino“ (1995) und „The Irishman“ (2019) entwarf Scorsese faszinierende Innenbilder des organisierten Verbrechens, so süffig-unterhaltsam wie brutal und barock.

Der Meistererzähler setzt in seiner Arbeit nicht nur auf das Spiel von Charakterköpfen wie Leonardo DiCaprio, Harvey Keitel oder Joe Pesci, sondern auf eine oft üppige, ausgeklügelte Ästhetik, die Scorsese mit renommierten Kameramännern wie dem Deutschen Michael Ballhaus (1935–2017) entwickelte. Man kann viel erzählen zu diesem riesigen, stetig wachsenden Lebenswerk des 1,63 Meter kleinen Herrn Scorsese. Wer aber dem Menschen selbst begegnen möchte, findet ihn in der Netflix-Serie „Pretend it’s a City“ als Gesprächspartner der bärbeißigen Intellektuellen Fran Lebowitz. Je grantiger die New Yorker Dichterin, desto herzlicher scheppert Scorseses Lachen.