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Ein Mann stürzt bei einer privaten Feier aus dem Fenster in die Tiefe – und keiner kümmert sich um den Verletzten. Eine angeklagte Frau bereute ihr Verhalten zutiefst, sie habe unter Drogen gestanden.

EsslingenWegen unterlassener Hilfeleistung musste sich jetzt eine 20-Jährige vor dem Amtsgericht Esslingen verantworten. Am Morgen des 29. Dezember 2018 war bei einer privaten Feier ein Bekannter unter Alkoholeinfluss aus dem Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock eines Esslinger Mehrfamilienhauses rund zehn bis zwölf Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich verletzt. Die damals ebenfalls in Esslingen wohnhafte Angeklagte hatte weder einen Rettungsdienst verständigt noch selbst nach dem Verunglückten gesehen und geholfen.

Mit fünf Minuten Verspätung trifft die Angeklagte, begleitet von ihrer Mutter, an diesem Montagvormittag im Sitzungssaal 1 des Amtsgerichts ein. Gefasst, aber etwas verschüchtert wirkt die zierliche junge Frau, als der Staatsanwalt zusammenfasst, was ihr zur Last gelegt wird. Dann soll die Angeklagte selbst schildern, was vom Abend des 28. Dezember an bis zum darauffolgenden Tag geschehen ist.

Mit einer kleinen Gruppe Bekannter sei sie zunächst in verschiedenen Lokalitäten Esslingens unterwegs gewesen, angefangen in der Bahnhofskneipe, in der sie damals arbeitete. Gegen drei Uhr nachts feierte man sich in der Wohnung des späteren Verletzten weiter. Sie selbst habe dort nichts mehr getrunken, auch zuvor kaum etwas, „aber wir haben Kokain genommen. Man ist danach wie in einer eigenen Welt“, berichtet die Angeklagte, die nach eigenen Angaben seit Februar 2019 clean ist. Den Sturz am Morgen des 29. Dezember 2018 habe sie hautnah miterlebt: „Ich bin in Panik geraten, wusste nicht, was ich tun soll. Ich dachte, er ist tot, so wie das geklungen hat. Mein Kopf war wegen der Drogen aber komplett zu, auch wenn das keine Entschuldigung ist“, sagt die 20-Jährige sichtlich geläutert. Mit einem weiteren Bekannten, der eingeschlafen war, verließ sie kurz nach dem Sturz die Wohnung, meldete den Vorfall aber am Mittag der Polizei. Der Gestürzte selbst sagte jetzt als Zeuge aus. Beim Sturz in ein Blumenbeet zog er sich eine leichte Gehirnerschütterung und Prellungen zu. Glück im Unglück, denn knapp neben dem Beet sei der Boden aus Beton, auf der anderen Seite ein Zaun: „Ich bin damals erst im Krankenhaus wieder aufgewacht.“ 2,3 Promille habe man bei ihm im Blut festgestellt, liest die Richterin aus den Unterlagen vor.

Weil er seine Fitnessstudiokarte aus der Dachrinne fischen wollte, die ihm beim Öffnen des Dachfensters aus der Hand gefallen war, habe er das Gleichgewicht verloren, erinnert sich der 29-Jährige. Als die Angeklagte das Wort an ihn richtet und sich entschuldigt, rollen ihr die Tränen übers Gesicht: „Ich bereue es wirklich, nichts getan zu haben. Ich habe große Schuldgefühle und danke Gott, dass es dir gut geht.“ Zwei Nachbarn, die den Sturz gehört hatten, riefen den Rettungsdienst. Die Nachbarin, die ihn gefunden hatte, sagte ebenfalls als Zeugin aus. Die in Griechenland geborene Angeklagte kam als Kind nach Deutschland und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich: diverse Umzüge – erst mit der Familie, dann allein. Den Hauptschulabschluss in der Tasche, die Schule aber in Klasse 10 abgebrochen. Verschiedene Jobs, eine abgebrochene Ausbildung. Der Umgang mit den falschen Leuten, Drogenmissbrauch.

Heute habe sie ihr Leben wieder im Griff, sagt die junge Frau. Seit Oktober letzten Jahres lebt sie wieder bei der Familie im Landkreis Rastatt, arbeitet aktuell im Einzelhandel und startet im April ihre Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie ihr Fehlverhalten begriffen habe. Nach dem Jugendstrafrecht sei eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen möglich, erläuterte der Staatsanwalt. Im Falle der Angeklagten wurde festgelegt, dass sie bis 15. Mai einen umfassenden Ersthelferkurs besuchen und zudem bis Ende Juni 2020 mindestens zwei Termine bei der Jugend- und Drogenberatung wahrnehmen und beides bei Gericht nachweisen muss. „Erfüllen Sie die Auflagen in Ihrem eigenen Interesse“, appellierte die Richterin mit Nachdruck. Erst dann könne das Verfahren endgültig eingestellt werden. „Halten Sie sich nicht daran, können die Konsequenzen deutlich härter ausfallen.“