Sträuben hilft nicht: Millionen von jungen und alten Shanghaiern müssen sich einem Corona-Test unterziehen. Foto: imago/Xinhua/Wang Shujuan

In der reichsten Metropole Chinas ist wegen des Lockdowns die Angst vor Hunger zurückgekehrt. Der Frust entlädt sich in verzweifelten Hilferufen. Ein Ende der staatlich verordneten Isolierung ist nicht in Sicht.

Der Mann läuft im Kreis, eingesperrt wie ein Panther im Käfig. Voll Inbrunst schreit er durch den Innenhof seiner abgeriegelten Wohnanlage: „Was soll ich essen? Was soll ich trinken? Ihr treibt die Leute in den Tod.“ In seiner Verzweiflung klagt der Chinese lautstark darüber, dass die Großmutter weggesperrt sei, ihm das Ersparte ausgehe und die Regierung die Bewohner im Stich lasse. Als ihn eine Nachbarin beruhigen möchte, entgegnet er: „Es ist mir egal, soll mich doch die Kommunistische Partei abführen. Wo ist der Kommunismus jetzt? Ihr Bastarde!“

Die Infektionszahlen steigen trotz Lockdown

Der Lockdown sorgt unter den Chinesen für immer mehr Unverständnis. Millionenfach wurde der Wutausbruch eines Shanghaier Senioren in den sozialen Medien geteilt, ehe das Video von den Zensoren gelöscht wurde. Doch eine Tonaufnahme des Clips konnte archiviert werden: „Versucht ihr, die Kulturrevolution zu übertrumpfen? Schauen Sie sich nur mal die Atmosphäre des Terrors an, die Sie geschaffen haben“, schimpft der Chinese, offensichtlich an ein Mitglied des Nachbarschaftskomitees gerichtet: „Ich schaffe es gerade mal, von Reisbrei und Nudeln zu überleben. Im Gefängnis wäre ich besser dran. Dort würden sie mir wenigstens Medizin geben.“

Es ist schwer mit anzusehen, wie die wohlhabendste Stadt Chinas innerhalb weniger Wochen in eine Geisterstadt verwandelt wurde, in der längst vergessen geglaubte existenzielle Ängste in den Alltag der Menschen zurückgekehrt sind. Die Leute fürchten um ihre Lebensmittelvorräte oder dass ihre eigenen Kinder im Fall einer Infektion von den Behörden abgeführt werden könnten. Solche Dinge passieren in Shanghai derzeit im Namen der Null-Covid-Strategie.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Corona-Lockdown in Shanghai verlängert

Doch trotz des zunehmenden Leids gibt es derzeit keine Hoffnung, dass der radikale Lockdown bald aufgehoben wird. Denn am Donnerstag sind die Infektionszahlen erneut gestiegen, haben einen Rekordwert von 20 000 Fällen erreicht. Ob die offiziellen Zahlen stimmen, wird jedoch von vielen Bewohnern bezweifelt: Allein im Donghai-Seniorenheim sind nach einem Corona-Ausbruch 20 Bewohner gestorben, doch in den Statistiken taucht keiner von ihnen auf.

Auch viele Ausländer leiden unter der Isolierung

Auch unter den sonst privilegierten Ausländern ist der Frust hoch. „Das Einzige, was uns gesagt wurde, ist, dass wir die Wohnung nicht verlassen sollen“, sagt ein Deutscher, der seit Jahren in Shanghai lebt. Er habe am ersten Tag des Lockdowns eine staatliche Gemüselieferung erhalten, seither hängt der Mann von seiner – noch immer gut gefüllten – Vorratskammer ab: „Reich sein bedeutet in Shanghai nicht mehr, ob man eine Louis-Vuitton-Tasche besitzt, sondern wie viel Gemüse man hat.“

Lesen Sie aus unserem Angebot: In Shanghai ist Gemüse die neue Währung

Während in Europa die Lockdowns im vergangenen Jahr nicht selten für Entschleunigung, Yoga-Übungen oder ausgiebige Koch-Sessions genutzt wurden, haben die Ausländer in Shanghai derzeit viel elementarere Anliegen: „Wie kann ich mein Haustier retten, wenn ich in Quarantäne muss?“, fragt beispielsweise einer im Gruppenchat. Jemand anderes möchte wissen, wie man eine Sondergenehmigung erhält, um zum internationalen Flughafen zu gelangen.

Polizeidrohnen kreisen über den Wohnsiedlungen

Aus diplomatischen Kreisen ist zu hören, wie sehr die um ihren internationalen Ruf besorgte Stadtregierung unter Druck steht: einerseits vonseiten der Bevölkerung, bei der sich immenser Ärger aufgestaut hat. Andererseits muss sie die Zentralregierung aus Peking zufriedenstellen, die ein dogmatisches Einhalten der vorgegebenen Null-Covid-Politik fordert.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Lockdown verlängert – „Wettrennen gegen die Zeit“

Zumindest die Nahrungsmittelversorgung soll besser werden, hat die Regierung versprochen. Derzeit kann man – wenn überhaupt – aber nur sogenannte Gruppenkäufe ergattern: 20 Paletten Äpfel aus der Lagerhalle, Brotlieferungen für umgerechnet mehrere Hundert Euro, Fleisch ab einem Dutzend Kilo pro Auftrag. Wer es über die normalen Liefer-Apps am Smartphone probiert, geht leer aus. Wenn man doch Glück hat, muss man nicht selten auf dem Schwarzmarkt horrende Preise zahlen. Die wenigen Händler, die weiter operieren können, versuchen aus dem Leid der Leute Profit zu schlagen.

Am zehnten Abend des Lockdowns entlud sich der ganze Ärger in lauten Chören in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand. Gemeinsam schrie man gegen die strengen Maßnahmen der Regierung an. Diese reagierte jedoch prompt – in Form von umherfliegenden Polizeidrohnen, die mit Megafonen die Wohnblöcke beschallten: „Bitte halten Sie sich an die Covid-Restriktionen. Zügeln Sie Ihre Sehnsucht nach Freiheit. Schließen Sie die Fenster, und hören Sie auf zu singen.“

7000 Deutsche stecken in Shanghai fest

Generalkonsul
Immerhin 7000 Deutsche sind derzeit noch in Shanghai, doch insbesondere die Familien mit Kleinkindern wollen am liebsten nur noch raus aus China. „Die Nerven liegen blank, es ist für alle belastend“, sagt Generalkonsul Pitt Heltman, der ebenfalls im Lockdown steckt, beim virtuellen Bürgertreff für seine Landsleute in der Stadt: „Nach den heutigen Infiziertenzahlen bin ich nicht mehr so optimistisch, dass wir mit einem baldigen Rückbau der Maßnahmen rechnen können.“