Auftakt zu einer Serie von Attacken: Bei einem Brandanschlag auf die Veranstaltungstechnik für eine Großdemo auf dem Cannstatter Wasen werden mehrere Fahrzeuge zerstört. Foto: imago images/7aktuell

Die linksextreme Szene im Land wächst. Jetzt steht sie im Verdacht, für mehrere Übergriffe rund um die Corona-Proteste verantwortlich zu sein. Verfassungsschützer machen sich Sorgen über eine zunehmende Radikalisierung vor allem im Stuttgarter Raum.

Stuttgart - Den 16. Mai wird in Stuttgart mancher nicht so schnell vergessen. Nicht nur, weil an jenem Samstag wieder Tausende auf dem Cannstatter Wasen gegen die Corona-Maßnahmen der Politik protestieren. Nein, der Tag stellt einen Wendepunkt dar. Denn rund um die Demonstration kommt es zu Übergriffen auf Teilnehmer, wie sie die Stadt bisher noch nicht gekannt hat. Am Ende des Tages schwebt ein Mann in Lebensgefahr, mehrere andere sind verletzt, Fahrzeuge in Rauch aufgegangen.

Nach Beobachtung des Verfassungsschutzes werden die Proteste gegen die Beschränkungen von rechten Gruppen unterwandert und entwickeln sich damit zur Zielscheibe. Die Polizei hält es für wahrscheinlich, dass die Anschläge von der linksextremistischen Szene verübt worden sind. „Die linke und die rechte Szene behalten sich gegenseitig im Auge. Handfeste Konfrontationen der politischen Gegner hat es schon immer gegeben. Aber nicht in dieser Ausprägung. Das ist ein neues Phänomen“, heißt es beim Stuttgarter Staatsschutz.

Die Spirale der Gewalt beginnt sich bereits am frühen Morgen in Untertürkheim zu drehen. Um kurz nach halb drei stehen auf dem Gelände einer Firma für Veranstaltungstechnik drei Fahrzeuge in Flammen. Eine Zugmaschine mit Auflieger, ein weiterer Lkw und ein Lautsprecherwagen werden zerstört. Offenbar ist das kein Zufall: Sie waren für die Demo auf dem Wasen vorgesehen. Der Sachschaden geht in die Zehntausende. Später werden immer wieder Teilnehmer auf dem Weg zum Gelände angegriffen, an Autos die Reifen zerstochen. Abends wird eine Gruppe in Bad Cannstatt attackiert, die erkennbar von der Demo kommt. Sie flüchtet sich in eine Pizzeria.

Opfer kämpft um sein Leben

Der schwerste Zwischenfall ereignet sich jedoch an der Mercedesstraße. Auf dem Weg zur Kundgebung werden ein 54 Jahre alter Mann und seine zwei Begleiter von einer größeren Gruppe schwarz gekleideter und vermummter Täter überfallen. Sie richten den Mann, der Betriebsrat bei Daimler sein und dort der rechtsgerichteten Gruppe Zentrum Automobil angehören soll, übel zu. Er wird lebensgefährlich verletzt und befindet sich bis heute in kritischem Zustand. Die Ermittler finden am Tatort zwei Schlagringe. Sie gehen von einem gezielten Übergriff aus und ermitteln wegen versuchter Tötung.

Nun gibt es in allen Fällen bisher keine konkreten Tatverdächtigen. Und ein Sprecher der Stuttgarter Polizei betont, man ermittle „in alle Richtungen“. Klar ist in Ermittlerkreisen aber auch, dass die Handschrift der Taten auf einen linksextremistischen Hintergrund hinweist.

Die Szene einzugrenzen, ist indes gar nicht so einfach. Im Vergleich zum rechten Rand der politischen Ideologie-Landkarte ist die linke Seite deutlich vielfältiger. „Es gibt nicht die eine linke Szene“, sagt ein Staatsschützer. Ein bürgerliches Spektrum kommt ebenso vor wie ein gewerkschaftliches. Globalisierungsgegner können dazu gehören wie Friedensaktivisten oder eine antikapitalistische Strömung. In Stuttgart finden viele von ihnen ein Zuhause im linken Zentrum Lilo Herrmann in Heslach. Hausbesetzungen sind ebenso Teil der Aktionen wie Unterstützung von Kurden-Demonstrationen. Die Übergänge sind fließend und die Gruppen gut vernetzt. In den allermeisten Fällen bleibt es friedlich.

Die Szene wächst seit Jahren

Kritisch werde es allerdings, wenn es um das Thema Rassismus und tatsächliche oder vermeintliche Rechtsausrichtung geht. Dann macht sich eine Gruppe ans Werk, die sich selbst als Antifaschisten bezeichnet. Der politische Gegner werde gezielt gesucht, es gibt Konfrontationen auch mit der Polizei. Dabei gehen die Gruppen sehr professionell vor, reagieren schnell und unterstützen sich landes- und auch bundesweit gegenseitig.

Klar ist, dass die Szene wächst. Für Baden-Württemberg geht das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) derzeit von 880 gewaltorientierten Linksextremisten aus. Insgesamt rechnet das LfV 2950 Personen dem Bereich Linksextremismus im Land zu. Das sind fast doppelt so viele wie beim Rechtsextremismus. Für Deutschland sind am Mittwoch in Berlin neue Zahlen vorgestellt worden. Demnach hat es im vergangenen Jahr bundesweit mehr als 41 000 politisch motivierte Straftaten gegeben – ein Plus von 14 Prozent. Mehr als die Hälfte kam aus dem rechten Umfeld, knapp ein Viertel aus dem linken, dort jedoch mit großem Zuwachs.

Besondere Sorgen machen sich die Verfassungsschützer im Land wegen der Szene in Stuttgart. Der harte Kern dort umfasst etwa 50 Leute. „Linksextremistisch motivierte Gewalt geht vornehmlich von der autonomen Szene aus“, sagt ein LfV-Sprecher. Autonome betrachteten die Gewaltanwendung als ein legitimes Mittel und anerkennen das staatliche Gewaltmonopol nicht. „Beim Vorgehen dieser gewaltorientierten Linksextremisten ist bereits seit Jahren eine sinkende Hemmschwelle und zunehmende Brutalität festzustellen“, so der Sprecher. Vor allem die Häufung der „koordinierten körperlichen Übergriffe“ wie mutmaßlich bei den Corona-Protesten stellt aus Sicht der Verfassungsschützer eine neue Entwicklung dar, die sich „zumindest derzeit noch“ auf Stuttgart konzentriere.

Parallelen zu Berliner Fall

Es gibt aber durchaus Anzeichen, dass das nicht so bleiben muss. Der gezielte Angriff auf den 54-Jährigen in Stuttgart erinnert an einen Vorfall vor wenigen Wochen in Berlin. Dort wurde ein ZDF-Team am Rande einer der umstrittenen „Hygienedemos“ gegen die Coronaregeln von einer großen Gruppe Vermummter attackiert. Mehrere Menschen mussten ins Krankenhaus. Die Polizei nahm kurz darauf sechs Tatverdächtige fest, von denen drei der linksextremistischen Szene angehören sollen. Tags darauf waren sie wieder auf freiem Fuß. Und viele Fragen offen. Warum zum Beispiel sollten Linke am Rande einer Demo, die von einer wilden Mischung an Menschen besucht wird, gezielt ein Fernsehteam angreifen?

Klar ist aber, dass zwei der Festgenommenen aus Baden-Württemberg stammen. Nach Informationen unserer Zeitung soll einer von ihnen zur linksextremistischen Szene in Heilbronn gehören. Deshalb schauen die Ermittler im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Angriff offenbar auch dorthin. Der Druck ist groß. Denn Gewalt als Lösung dürfe sich nicht durchsetzen.

Hintergrund

Anstieg
Die Zahl der als Extremisten eingestuften Menschen in Baden-Württemberg steigt seit Jahren. Die Zahl der politisch motivierten Straftaten ist allerdings zuletzt zurückgegangen – anders als im Bund, wo jetzt erneut ein Anstieg bei den Taten von Rechts und Links verzeichnet worden ist. Baden-Württemberg stellt die Statistik für 2019 erst in einigen Wochen vor.

Rechtsextremismus Die Zahl der Rechtsextremisten ist in den vergangenen Jahren konstant geblieben. Zuletzt waren es 1700. Fast die Hälfte von ihnen wird allerdings als gewaltorientiert eingestuft, nämlich 770. Im Jahr 2018 gab es 1451 politisch motivierte Straftaten in diesem Bereich, davon waren 48 Gewaltdelikte.

Linksextremismus Die Zahl der Linksextremisten im Land übersteigt mit 2950 die der Rechten deutlich. 880 von ihnen gelten als gewaltorientiert. Beide Zahlen steigen seit Jahren. Politisch motivierte Straftaten gibt es in diesem Bereich weniger. Zuletzt waren es 500, darunter jedoch 60 Gewaltdelikte.

Islamismus: Auch die Zahl der Islamisten steigt, zuletzt auf 3860. Straftaten gab es 43, davon vier Gewaltdelikte.