Nicole Weis hat as Buch „Elbe 511“ geschrieben. Die Autorin lebt in Leonberg. Foto: Simon Granville

Bei dem kleinen Ort Rüterberg in Mecklenburg-Vorpommern liegt der Kilometerstein 511. Was er für Nicole Weis, die heute in Leonberg lebt, und ihre Familie für eine Bedeutung hat, darüber schreibt sie in ihrem Buch „Elbe 511“.

Eigentlich ist der Kilometerstein 511 eine Markierung wie viele andere auch. Doch hier ist der Vater von Nicole Weis bei seiner Flucht aus der damaligen DDR in die Freiheit geschwommen.

Zwar wusste Weis als Kind noch nicht, welche Bedeutung dieser Platz an der Elbe für ihren Vater Wolfgang hatte, doch an die Ausflüge dorthin, an die stummen Blicke nach „drüben“, daran erinnert sie sich gut. Auch deshalb und um zu verstehen, was seine damalige Entscheidung für die zurückgebliebenen und für die hinzugekommenen Menschen im Leben ihres Vaters bedeutete, hat sie nach seinem Tod seine Geschichte aufgeschrieben.

Als junger, abenteuerlustiger Mann ist Wolfgang G. vor dem Mauerbau in den Westen gezogen, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Doch Heimweh und die inständigen Bitten seiner Mutter trieben ihn zurück. Leider hatte sich seine Mutter mit ihrer Versicherung, ihm werde nichts passieren, getäuscht, und er verbrachte wegen des Vorwurfs der Spionage vier Jahre in Haft im berüchtigten Gefängnis Bautzen I, dem „Gelben Elend“. Was er dort erlitten hat, prägte ihn für sein ganzes Leben.

Lebensgefährliche Flucht

Nach seiner Entlassung stand er unter Beobachtung und durfte sich nicht frei bewegen, er durfte nicht in seinem Heimatort leben und seine Mutter nur mit einer Genehmigung besuchen. Auf diese Weise „eingesperrt“ konnte und wollte Wolfgang G. nicht leben, und er riskierte rund fünf Jahre nach der ersten die zweite, diesmal lebensgefährliche Flucht. Die Flucht gelang. Nicole Weis, die in Hamburg aufgewachsen ist, und ihr Vater standen sich sehr nahe, trotzdem hat er so gut wie nichts über die traumatische Zeit seiner Haft erzählt. Erst in Gesprächen mit Zeitzeugen hat seine Tochter begreifen können, was ihrem Vater widerfahren ist. Sie hat sich von einem ehemaligen Häftling in Bautzen erklären lassen, wie das Leben hinter Gittern für die politischen Häftlinge war, wie Willkür, Folter und Angst das Leben dort bestimmte.

Erst dadurch ist ihr bewusst geworden, warum ihr Vater von so manchem Tick beherrscht wurde. Das Auslegen von Nagelbrettern sollte beispielsweise dafür sorgen, dass ihr Vater in der Nacht nicht überrascht werden konnte. Und dass er mehr Schuhe besaß als jeder andere, den Nicole Weis kennt, hing damit zusammen, dass er befürchtete, seine Schuhe könnten ihm nochmals abgenommen werden und er wieder nur zwei linke Schuhe tragen – so wie jahrelang im Gefängnis. Und die Autorin weiß heute, dass sie ihren Vater „. . . nie ganz verstehen konnte, weil er immer einen unsichtbaren Rucksack auf dem Rücken trug“, wie sie schreibt. Das Buch „Elbe 511“ ist ein spannendes Zeugnis vom Leben im geteilten Deutschland. „Einige Teile habe ich schon vor Jahren aufgeschrieben, einfach, um das Erlebte nicht zu vergessen. Wie zum Beispiel die ersten Begegnungen mit unseren Verwandten in Rüterberg nach dem Mauerfall“, erzählt Nicole Weis. Anderes hat sie durch Zeitzeugen, akribische Recherche und das Durchforsten von Akten der Staatssicherheit erfahren. „Manche Schilderungen, wie das Kapitel über Helgas Abschied von ihrer Familie, habe ich tatsächlich fast wortwörtlich aus den Stasiakten übernommen.“ Weis schaudert bei der Erinnerung an die unglaublich detaillierten Berichte, die der Staatssicherheitsbehörde von ihren Zuträgern übermittelt wurden. Vieles am Verhalten ihres Vaters versteht Nicole Weis dadurch heute besser.

Packende Schilderung

Gleichzeitig ist der Roman „Elbe 511“ eine sehr reale, sachliche und trotzdem packende Schilderung der Verhältnisse im damaligen Arbeiter-und-Bauern-Staat, ein „sehr beeindruckendes Zeugnis deutscher Zeitgeschichte“, wie ein Leser ihr geschrieben hat. Das finden auch die zahlreichen Besucher ihrer Lesungen, fünf innerhalb Deutschlands und eine in der Schweiz sind es bis jetzt gewesen. „In der Schweiz kamen die meisten Besucher“, erinnert sie sich, „überwiegend Menschen, die aus der DDR geflohen waren und sich in diesem Roman auf die eine oder andere Weise wiedergefunden haben.“ Die Besucher haben ihr vieles erzählt, und das hat sie sehr bewegt.

Die DDR zurückwünschen? Auf keinen Fall

Wenn Nicole Weis heute hört, dass Menschen die damalige DDR gerne zurückhätten, dann wird ihr freundlicher Tonfall eine Nuance dunkler: „Diesen Menschen möchte ich nur sagen, dass sie sich genau informieren sollten, wie das Leben in der Ostzone war, bevor sie sich diesen Staat zurückwünschen.“

Nicole Weis hat Medizin studiert, lebt mit ihrer Familie in Leonberg und arbeitet in der Stuttgarter Beratungsstelle der Heidelberger Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr. Neben Beruf und Familie ist das Schreiben ihre große Leidenschaft. „Elbe 511“ ist ihr zweiter Roman, ein Lyrikband und eine Sammlung von Kurzgeschichten sind in Vorbereitung.

Infos zum Buch Nicole Weis: „Elbe 511“. Roman, Europa-Verlag. ISBN 978-3-95890-450-7, 20 Euro. Mehr zur Autorin und ihren Werken im Internet unter www.lyrikleben.de