Ein Satellitenfoto zeigt den gesprengten, 1956 gebauten Kachowka-Staudamm. Etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser bedrohen die Menschen unterhalb des Dammes. Foto: dpa/Uncredited

Durch die Zerstörung des ukrainischen Kachowka-Staudamms sind 50 000 Menschen von Überschwemmungen bedroht. Das ukrainische Militär wird in seinen Optionen für eine Offensive gegen die Russen gebremst.

Videos, Fotos und Kurznachrichten auf vielen Plattformen der sozialen Medien machen deutlich: Seit Sonntagmorgen haben in der Ukraine die Gefechte zugenommen, selbst an Abschnitten der etwa 850 Kilometer langen Front im Osten und Süden des Landes, die seit vergangenem Herbst als ruhig galten. Zugleich greifen die russischen Streitkräfte Städte und deren Infrastruktur seit gut einer Woche in einem Ausmaß aus der Luft an wie in den ersten Tagen ihrer aktuellen Offensive im Februar 2022. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Tag 3393 des russischen Angriffs auf die Ukraine ist eine neue Eskalation in diesem Krieg.

Was geschah am Kachowka-Staudamm?

Der Kachowka-Staudamm im russisch kontrollierten Teil des ukrainischen Regierungsbezirks Cherson ist nach ukrainischer Einschätzung von russischen Pionieren irreparabel gesprengt worden. Russland wirft der Ukraine vor, den Damm zerstört zu haben. Der 30 Meter hohe und 3,2 Kilometer lange Staudamm wurde 1956 am Fluss Dnipro als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka errichtet. Etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser werden so gestaut, das nahe gelegene Atomkraftwerk Saporischschja wird damit ebenso versorgt wie die russisch besetzte Halbinsel Krim. Nach Einschätzung beider Seiten sind etwa 50 000 Menschen auf einer Länge von etwa 80 Kilometern zu beiden Seiten des Flusses von Überschwemmungen bedroht. Präsident Wolodymyr Selenskyj berief eine Dringlichkeitssitzung des Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrates ein.

Wer hat den Staudamm gesprengt?

Plausibel ist es nicht, dass die Ukraine den Damm sprengte. Im Gegenteil: Die Zerstörung hat nur Nachteile für mögliche ukrainische Operationen. Die zu erwartenden Überschwemmungen machen weite Geländeteile für ukrainische Bodentruppen unpassierbar. Gerade in einem Bereich, in der nur schwache russische Verbände stehen, die selbst zu keinen offensiven Operationen mehr fähig sind. Die Überflutung nimmt gepanzerten ukrainischen Verbänden auf einer Breite von 80 bis 100 Kilometern der 850 Kilometer langen Front die Möglichkeit, schwache russische Stellungen schnell zu durchstoßen.

Was sagt das Kriegsvölkerrecht zur Sprengung eines Staudammes?

Nach dem im Juni 1977 in Kraft getretenen Artikel 56 des Zusatzprotokolls I zum Genfer Abkommen von 1949 dürfen Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen. Ein solcher Angriff könnte „gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen“. Andere militärische Ziele, die sich an diesen Anlagen oder Einrichtungen oder in deren Nähe befinden, dürfen nicht angegriffen werden, wenn ein solcher Angriff beispielsweise eine Überschwemmung freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann. Die Sprengung des Staudamms ist in jedem Fall ein Kriegsverbrechen.

Hat die erwartete Offensive der Ukraine begonnen?

Das ist nach wie vor fraglich. Die aktuellen Angriffe ukrainischer Bodentruppen haben regional begrenzten, taktischen Charakter. Sie dienen sehr wahrscheinlich dazu, von den Vorbereitungen für eine operative oder gar strategische Offensive abzulenken. Dafür spricht, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass die modernen, vor allem aus Deutschland gelieferten Leopard-Kampfpanzer bislang eingesetzt wurden. Diese, russischen Kampfpanzern deutlich überlegenen, westlichen Panzer dürfte der ukrainische Generalstab dort einsetzen, wo er die russischen Stellungen rasch durchstoßen, die Versorgungslinien unterbrechen und Schlüsselgelände wie Kreuzungen und Knotenpunkte im Hinterland besetzen will.

Dienen die derzeitigen Kämpfe dazu, russische Stellungen aufzuklären?

Das Lagebild der ukrainischen Kommandeure ist durch unentwegten Einsatz von Drohnen, von Spähtrupps und durch Informationen von der NATO so umfassend und detailliert, dass die inzwischen veraltete Taktik „Aufklärung durch Kampf“ abwegig erscheint. Im Gegenteil: Es wird Ziel der Kommandeure sein, ihre Kräfte zu schonen und ihnen keinen unnötigen Opfer abzuverlangen.

Und was passiert in Bachmut?

Ukrainische Spezialkräfte halten unverändert den südwestlichen Stadtrand. Auf dem Höhenzug im Westen der Stadt wehren die Gebirgsjägerbrigade 5 und eine Panzergrenadierbrigade 93 – insgesamt etwa 8000 Soldatinnen und Soldaten – russische Vorstöße ab. Währenddessen machen Fallschirmjäger der Brigaden 53 und 56 im Norden und der Luftlandebrigade 3 im Süden der Stadt an den Flanken der Russen kontinuierlich Gelände.