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Die Diskussion um das sogenannte Coimbra-Protokoll zeigt, wie schwierig es ist, alternative Therapien zu beurteilen.

EsslingenMax Schadenberg hat vor kurzem sein Einjähriges gefeiert. So nennt es der 39-Jährige jedenfalls, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Ein Jahr ohne Spritzen und deren Nebenwirkungen. Ohne blaue Flecken am Körper. Ohne grippeähnliche Symptome in der Nacht. Der Mann, der nahe Ulm aufgewachsen ist und vor zehn Jahren die Diagnose Multiple Sklerose bekam, hat im Januar 2018 aufgehört, sich Betaferon gegen die MS zu spritzen. Seither setzt er nur noch auf Vitamin D, hochdosiert. Genauso wie Karin Kohl, 32, wohnhaft im Raum Stuttgart, MS-Diagnose 2016, die im Juli des vergangenen Jahres mit dem sogenannten Coimbra-Protokoll angefangen hat und ebenso anonym bleiben möchte: „Über mir hängt nicht mehr das Damoklesschwert, dass ich immer an die Spritzen denken muss, dass ich chronisch krank bin.“ Psychische wie physische Nebenwirkungen haben bei den beiden MS-Kranken nachgelassen.

Der brasilianische Neurologe Professor Cicero Coimbra hat 2002 angefangen, MS- und anderen Autoimmunkranken hohe Dosen von Vitamin D zu verabreichen – und zwar vereinzelt das bis zu 30-Fache der international anerkannten als absolut sicher geltenden Tagesdosis von 4000 IE (internationale Einheiten). Mittlerweile haben Coimbra und die von ihm ausgebildeten Ärzte – Stand Januar 2019 sind es mehr als 120 weltweit, 24 davon im deutschsprachigen Raum – nach eigenen Angaben ungefähr 30 000 Patienten behandelt. Und davon hätten etwa 90 Prozent eine Remission erreicht, also den Stillstand der Krankheit.

Verwertungsstörung von Vitamin D

Die Idee fußt darauf, dass Autoimmunkranke eine Verwertungsstörung von Vitamin D aufweisen und dieses Vitamin das Immunsystem beeinflusst. Sie basiert zudem auf der wissenschaftlich erwiesenen Wirkung von Vitamin D auf das Erkranken an MS (Anzahl der Erkrankungen korreliert mit der Vitamin D-Gabe in der Schwangerschaft; Verwandten von Erkrankten wird eine Einnahme empfohlen) sowie deren Verlauf. Und darauf, dass die Anzahl der Erkrankten in sonnereichen Regionen der Welt geringer ist, was auch gilt, wenn der Vitamin D-Spiegel in der Jugend hoch war. Das Ziel der Therapie ist der Stillstand der Krankheit. Keine neuen Entzündungsherde und der Rückgang bestehender, keine weiteren Schübe. Zudem sollen Zellneubildungen und -reparaturen angeregt werden sowie Beeinträchtigungen und Behinderungen zurückgehen, wenn diese erst ein bis zwei Jahre vor dem Therapiestart aufgetreten sind.

Seit etwa 2016 verbreitet sich das Coimbra-Protokoll auch in Deutschland – und gerade in den sonnenarmen Wintermonaten wird der Ruf nach Vitamin D laut, dabei produziert der Mensch es vor allem dank der Sonne. Anlass genug, sich damit zu beschäftigen.

Im vergangenen Jahr haben sich beim Kongress für Menschliche Medizin in Frankfurt Vitamin D-Experten getroffen. Mit dabei neben Professor Coimbra waren Michael Holick, US-amerikanischer Arzt und Biochemiker („Jede Frau – auch bevor sie schwanger ist – sollte 4000 Einheiten pro Tag zu sich nehmen, Stillende 6000 Einheiten täglich“), Carsten Carlberg, deutscher Biochemie-Professor in Finnland („Wenn wir Vitamin D nehmen, beeinflussen wir die Funktion von Zellen“) und Christina Kiening („Ich bin ein lebendes Beispiel dafür, dass das Coimbra-Protokoll funktioniert“). Namen, die von Befürwortern der Hochdosis-Vitamin-D-Therapie gern herangezogen werden.

Vitamin D wird direkt zum Zellkern transportiert

Gerade an Christina Kiening kommt man in Deutschland nicht vorbei, wenn man sich mit dem Coimbra-Protokoll beschäftigt. Sie ist selbst MS-Patientin, konnte kaum mehr laufen, war halbseitig gelähmt, hatte Blasen- und Darmprobleme. Bei ihrem Auftritt auf dem Kongress in Frankfurt war davon nichts mehr zu sehen. Ihr Hausarzt war der erste in Deutschland, der sich bei Professor Coimbra fortgebildet hat, und Kiening wirbt seither für die Therapie. Sie hat 2016 eine geschlossene Facebook-Gruppe gegründet, die mittlerweile mehr als 8000 Mitglieder aufweist.

Man kennt solche Hypes, gerade um Vitamine als Wundermittel. Und auch bei Vitamin D im Allgemeinen sowie dem Coimbra-Protokoll im Speziellen herrscht ein Disput zwischen Befürwortern und Gegnern. Nun eignet sich dieser Fall aber für eine genauere Betrachtung, weil Cicero Coimbra das immerhin schon mehr als 15 Jahre macht, weil die Patientenzahl immer weiter steigt und weil Vitamin D nicht „nur“ ein Vitamin ist, sondern ein Pro-Hormon, das direkt zum Zellkern transportiert wird, das die Hülle unseres Genoms, also sozusagen des Erbguts, verändern kann – und dessen Spiegelbestimmung auch prophylaktisch sinnvoll wäre.

Verlaufsstudie an der Charité geplant

Die Pro-Partei verweist auf Studien oder Dissertationen zur positiven Beeinflussung von Vitamin D auf MS und andere Autoimmunkrankheiten. Aus Norwegen, aus Amerika, aus Deutschland. Während der generelle positive Effekt weitgehend Konsens ist, entsteht bei der Recherche der Eindruck, dass auch eine Hochdosis-Therapie helfen kann, wenn man bereits erkrankt ist. Die Contra-Partei, darunter die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft sowie ihr baden-württembergischer Ableger Amsel, beklagt hingegen fehlende Studien, die konkret das Coimbra-Protokoll analysieren. Sie verweist auf die Kraft der Sonne, rät von der Therapie mit hoch dosiertem Vitamin D ab und warnt vor allem davor, die Basistherapie dafür zu beenden. Zudem verweist sie auf die Risiken – zum Beispiel dass die Nieren Schaden nehmen können – und betont die Nebenwirkungen: Die Patienten sollten mindestens 2,5 Liter pro Tag trinken, sich calciumarm ernähren (unter anderem Milchprodukte weglassen), regelmäßig Sport treiben, Stress und emotionale Belastungen meiden sowie Urin, Blutbild und Knochendichte untersuchen lassen. Deshalb fordern die Gegner eine Studie, die den mittel- bis langfristigen Nutzen des Coimbra-Protokolls nachweist und die Entwicklung der Risiken und Nebenwirkungen analysiert. Und die Befürworter sind an einem Nachweis interessiert, dass hochdosiertes Vitamin D nicht schadet. Professor Friedemann Paul von der Berliner Charité plant solch eine Verlaufsstudie, allerdings schon seit anderthalb Jahren. Das Geld fehlt, und er ist skeptisch, ob das Vorhaben finanziert wird. Die Anforderungen bei den klassischen Geldgebern könnten zu hoch sein, und Pharmaunternehmen würden eventuell ihren eigenen Markt abtragen. So liegt die Hoffnung auf Stiftungen. Seine Motivation gründet darin, dass „es mich beunruhigt, wie eine Methode, deren Effektivität und Wirksamkeit nicht belegt ist, die aber möglicherweise erheblichen Schaden anrichtet, um sich greift“, wie der Leiter der AG Klinische Neuroimmunologie am NeuroCure Clinical Research Center sagt. Die Ziele des Coimbra-Protokolls könnten eintreten, aber: „Solange es nicht nachgewiesen ist, ist es ein unseriöses Heilsversprechen.“ Paul therapiert nicht nach Coimbra, er rät davon ab.

"Es ist echt anstrengend"

Die Patienten, die es machen, wissen gut Bescheid – jedenfalls unsere Gesprächspartner. Sie haben nur durch Zufall vom Coimbra-Protokoll erfahren, sich eingelesen und sind davon überzeugt, dass es kein Hokuspokus ist – auch wenn Skepsis vorhanden war. Während die Gegner Professor Coimbra gern Geldmacherei vorwerfen, sehen sie eher die Krankenkassen und die Pharmaindustrie in der Pflicht, sich zu öffnen und Mittel zur Verfügung zu stellen. Da spielt dann auch der wissenschaftliche Nachweis keine große Rolle, sagt Max Schadenberg: „Mich interessieren die Studien nicht, wenn ich bei acht von zehn Patienten höre: Es ist super.“ Karin Kohl betont aber in Bezug auf die Regeln, die man in puncto Lebensweise einhalten sollte: „Ich habe mich von Anfang an gefragt, warum das nicht jeder macht. Jetzt weiß ich es: Es ist echt anstrengend.“ Und Moritz Russ, der ebenfalls in der Nähe von Stuttgart lebt und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hofft darauf, dass der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern aufhört: „Dieses Bashing ist blöd.“ Da wird es ihn freuen, dass in zwei weiteren Punkten Einigkeit herrscht. Vitamin D-Gaben sollten nur unter ärztlicher Kontrolle erfolgen, schon allein weil jeder Mensch das Pro-Hormon anders umsetzt, Allgemeinaussagen demnach schwierig sind. Zudem ist es sinnvoll, den Vitamin D-Spiegel bestimmen zu lassen – und dann kann je nach Ergebnis eine Zugabe absolut hilfreich sein. Und gerade in unseren Breitengraden ist ein Mangel schon qua Witterung wahrscheinlicher.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie hier:

„Vitamin D ist lebensnotwendig“: Im Interview spricht Professor Rüdiger Braun über die Prophylaxe in Deutschland. „Diese steht nicht im Fokus von Kassen und Politik“, sagt der Labormediziner und gibt Tipps zum Umgang mit dem Pro-Hormon. Hier geht es zum Interview.

„Es fehlt die wissenschaftliche Evidenz“: Professor Peter Flachenecker argumentiert gegen das Coimbra-Protokoll und sagt: „Bei jeder Behandlung gibt es einen ausgeprägten Placebo-Effekt.“ Hier geht es zum Gesprächsprotokoll.

„Kollegen sollen das Potenzial der Methode sehen“: Dr. Beatrix Schweiger argumentiert für das Coimbra-Protokoll und sagt: „Es geht darum, dass die Patienten durch die kollegiale Zusammenarbeit gut und sicher betreut sind.“ Hier geht es zum Gesprächsprotokoll.

Fünf Patienten schildern Ihre Erfahrungen mit Vitamin D und ihrer Krankheit. Hier geht es zu deren Aussagen.

EZ-Redakteur Fabian Schmidt hat das Thema kommentiert. Hier geht es zum Kommentar.

Im Rahmen des #gEZnoch-Projekts ist ein Artikel entstanden über das Lügen bei Multipler Sklerose. Hier geht es zum Beitrag.

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