Glückskäfer und Wörterbücher – die Grundausstattung fürs Abitur. Foto: imago images/Jörg Halisch

Martin Gerstner hat die Schulkarriere seiner Tochter bis zum Ende interessiert begleitet und dabei viel gelernt, beispielsweise wie die hydrolytische Spaltung der Raffinose funktioniert. Jetzt hat er noch mal Abi gemacht.

Stuttgart - Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich habe an mein Abitur nur dunkle, fragmentarische Erinnerungen. Es war ein warmer Tag, draußen putzen die Menschen ihren Opel Ascona, drinnen labten sich die Mücken am Geruch aus langen Lernnachmittagen, die sich in den damals populären textilen Kunstfasern festgesetzt hatten. Ich mühte mich mit den Aufgaben ab, war allerdings in einer eher lethargischen Stimmung. Mein bisher erreichtes Notenniveau war so na ja. Es ging nicht mehr darum, den Schnitt nach oben zu peitschen, um ein Medizinstudium zu ermöglichen. Ärzte konnten auch andere werden. In der Abiprüfung blieb Zeit, auch mal raus zu gehen und eine zu rauchen. Danach traf man sich in einem Café und genehmigte sich in die aufkeimende Entspannung ein paar Biere. Den Rest habe ich vergessen. Auf die Idee, später einmal die archivierten Abiprüfungen einzusehen, wäre ich in tausend kalten Wintern nicht gekommen. Die Sache war abgehakt.

Meine Tochter hat jetzt auch ihr schriftliches Abi hinter sich gebracht. Sie startete von einem Notenniveau aus, von dem ich damals nicht mal hätte träumen können. Leider erreichte auch das Plateau der inneren Anspannung einen Höchstwert. Wir hatten zuvor das Mögliche getan, ihr zu helfen. Für Geschichte analysierte ich mir die Weimarer Republik. In einem Akt der Solidarität habe ich auch noch mal den Steppenwolf von Hesse gelesen und fand ihn genauso schrecklich wie damals – dieses Hineinleuchten in die Untiefen der deutschen Seele mit all den zivilisationsverachtenden Zügen, die uns in der Geschichte in mehr als einen Abgrund haben blicken lassen. Im Klappentext las ich, man habe ca. 80 Millionen Exemplare davon verkauft. Holy Shit. Statt des Steppenwolfs durfte man aber auch eine vergleichende Erörterung zweier lyrischer Texte wählen. Meine Tochter war an dem Morgen so nervös, dass sie sich eine halbe Stunde im Bad einschließen musste. Meine Frau und ich hatten in einer Blitzaktion am Vorabend noch rasch ein aufmunterndes Plakat gemalt und vor dem Eingang der Schule aufgehängt. Ich glaube, das Kind hat es nicht mal gesehen. Auch egal.

Anspannung löst sich in allgemeiner Erschlaffung auf

Am Ende lief natürlich alles gut. Sie schrieb 16 Seiten, in Geschichte sogar 20 und in Chemie hatte sie alle Formeln abrufbereit. Jetzt, in den Tagen danach, lösen sich die Schwaden aus Bildungsnebel und Angst in allgemeiner Erschlaffung auf. Diese Emissionen der Reifeprüfung - sind sie bei der Generation der jetzt Volljährigen noch erstickender als in früheren Jahren? Ich weiß es nicht. Die Vorbereitung in der Corona-Pandemie jedenfalls war schwierig. Auch eine Generation, die mit Zoom und Discord traumwandlerisch umgeht, will sich irgendwann mal zu einem Kaffee in einer Arbeitsgruppe treffen. Und sei es nur, um über die hirnrissigen Aufgaben zu räsonieren. Aber all diese emotional wichtigen Treffen fielen aus. Jeder war auf sich gestellt.

Nachdem die Anspannung sich löste, verließ meine Tochter ihr Bett einige Tage nicht mehr und blickte durch das Fenster ihres Laptops in die Zukunft. Die sieht ungewiss aus, aber das hat die Zukunft so an sich. Angst vor dem Brandmal der Geringschätzung als einer „Generation Corona“ mit Notabitur – dieses düstere Szenario malten einige Eltern in den Wochen vor dem Abitur an die Wand – muss sie bestimmt nicht haben. Sie und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben sich durch ein hartes Jahr gekämpft, ohne die Nerven zu verlieren. Und anders als der vorherige Abi-Jahrgang besteht ein Rest Hoffnung, dass die Initiations-Rituale zum Erwachsenenleben - Abiball, Party, Gruppenreise mit Freundinnen und Freunden – stattfinden können. Dann wäre ja doch noch alles gut. Und binnen Kürze - da bin ich mir sicher- wird die gnädige Löschfunktion der menschlichen Festplatte dafür sorgen, dass der ganze Abi-Stress im Nebel verschwindet. So wie bei mir.

Martin Gerstner (60) ist seinen beiden Kindern öfters mal peinlich, erfüllt also seinen Job als Vater. Er hat die Schulkarriere seiner Tochter bis zum Ende interessiert begleitet und dabei viel gelernt, beispielsweise wie die hydrolytische Spaltung der Raffinose funktioniert. Auf die Chemie kann man sich eben verlassen – auch in Coronazeiten.