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Ein Ritt mit dem Stahlross über den Museumsradweg: ein 63 Kilometer langes Naturereignis der besonderen Art.

Stuttgart - Ab einem gewissen Alter, sagen wir 62, rate ich davon ab, ohne Grund in den Spiegel zu schauen. An den besseren Tagen grüßt Einstein im Endstadium zurück, an den nicht ganz so guten Jopie Heesters reloaded. Jedenfalls beschloss ich, passend zu meinem Spiegelbild, den Museumsradweg zu erkunden. Empfohlen von erfahrenen Stahlross-Experten. Mit elektrischer Unterstützung, wie mir der mitfühlende Fahrradhändler ans Herz legte: „Denn auch Sie werden ja nicht jünger.“ Oder wie mein in Diplomatie unkundiger Orthopäde mit finsterem Blick aufs Röntgenbild knarzte: „Besser wird’s nimmer!“

Radeln in der Corona-Schlange

Warum ich just einen Sonntag wählte, um mich sportlich ambitioniert in die radelnde Corona-Schlange zwischen Nürtingen und Weil der Stadt einzureihen, bleibt ein Rätsel. Jedenfalls dämmerte mir auf der Einfädelspur im Reißverschlussverfahren, dass es Ideen gibt, die andere Menschen auch haben. Mit der jahrelangen Erfahrung des Überlebenstrainings auf der A 8 überstehe ich die ersten Meter im dichten Reiseverkehr unfallfrei. Dann taucht „Vati“ vor mir auf. Schwankend wie der Fernsehturm im Sturm – über die ganze Breite des schmalen Weges. Klingeling! „Vati“, ruft die „Mutti“ hinter ihm, „mach mal Platz, da will einer vorbei!“ Vati sieht angegriffen aus. Ein bisschen wie ein verirrter Klappradfahrer auf den Serpentinen hinauf nach L’Alpe d’Huez. „Dann soll er doch klingeln“, ruft Vati verärgert und schwankt weiter seines Weges. „Hab ich doch“, rufe ich rüber, „dreimal – mindestens.“ Mutti brüllt: „Vati ist schwerhörig.“ Vati guckt unsicher und fragt: „Was hat sie gesagt?“

Weiter ohne Rücklicht

Die Dame mit dem seitlichen Abstandshalter, schätze ihn mal Corona-mäßig korrekt auf einen Meter fünfzig, checkt in voller Fahrt ihr Handy, bremst dann abrupt, der Auffahrunfall lässt sich nicht mehr vermeiden. Der Schaden bleibt in der Familie. Ist ja nur ihr Mann, der hinten drauffährt. „Schatz“, flötet sie, „Jasmine hat eine Whatsapp geschickt. Unsere Prinzessin ist eben erst aufgestanden.“ Es ist 14.30 Uhr. Ihr Mann verdreht die Augen. Sie wundert sich: „Schatz, mein Rücklicht ist ab.“

Zwei Ortschaften weiter genießt ein Senior eine Aufmerksamkeit, die Radfahrer sonst nur bei der Tour de France auf sich ziehen. Der Reifen am Hinterrad ist platt. Drei potenzielle Helfer bestaunen das Naturereignis. Und zwei fragen sich, wie das passieren konnte. Mindestabstand: 20 Zentimeter. „Hat jemand Flickzeug dabei?“ Man kann in der Stille einen Ventildeckel fallen hören.

Der Drahtesel verweigert

Kurz vor Weil der Stadt ist die kleine Ena Teil eines familiären Dramas. Sie verweigert mit ihrem Drahtesel gleich am ersten Hindernis: Ein kurzer Abhang erscheint ihr steiler als die Mausefalle auf der Streif in Kitzbühel. „Mensch, Ena“, ruft Papa, der unten wartet, „fahr halt langsam, aber fahr.“ Mama sagt: „Ena, das musst du nicht, wenn du nicht willst.“ Und mit strengem Blick zum Rudelführer: „Muss wohl erst noch was passieren, Rolf!“ Ena geht zu Fuß, stolpert und fällt über den quergestellten Lenker. Was dann kommt, übersteigt den Fluglärm eines Airbus beim Start.

Rückkehr nach drei Stunden auf dem Museumsradweg und 63 Kilometern. Ich denke: 62 ist ein perfektes Alter. Ich höre nur noch, was ich will. Ich flicke meine Platten selber. Die Kinder sind längst erwachsen und wann sie sonntags aufstehen interessiert mich nicht die Bohne. Ich werde mich als Testfahrer für Radwege bewerben.