Stuttgart - Seine erste Begegnung mit einem Wolf in freier Wildbahn nennt der „Wolfsfreund“ und Buchautor Eckard Fuhr eine „echte Ernüchterung“. Ein junger Wolf sei „ziemlich lustlos im Morgengrauen über eine Wiese getrottet“, habe „mal hier, mal dort geschnuppert“. Nichts Spektakuläres, nichts Besonderes, „eine ganz normale Begegnung mit einem Tier eben“. Eine „Ernüchterung im positiven Sinn“, sei das gewesen - der Wolf als ganz normales Tier. Er rate zur Gelassenheit.
Wie bitte? Normales Tier, nichts Besonderes, Gelassenheit? Dabei macht das Raubtier im Südwesten derzeit Schlagzeilen wie kein anderes Tier. „Wolf frisst sich auf Lämmerweide satt“, titelte kürzlich eine Zeitung - er hatte in der Nähe von Heilbronn in einer Nacht drei Lämmer gerissen. Einen ähnlichen Vorfall gab es bei Bad Wildbad im Kreis Calw. Immer wieder kommt es zu Überfällen, Schaf- und Viehzüchter laufen Sturm, Landwirte brennen „Protestfeuer“ ab. Unbegründete Angstmache und Hysterie, meinen Tierschützer - „Wolfsverklärung“ kontern Viehzüchter.
Fest steht: Nach über 100 Jahren kehrt der Wolf zurück. In Brandenburg und Sachsen hat er schon Dutzende Rudel gebildet, auch in Niedersachsen und Bayern nistet er sich ein. Im Südwesten hingegen erkundet er noch das Terrain. Experten sind sich sicher: Noch sind es durchziehende Einzeltiere, die gesichtet werden, noch gilt Baden-Württemberg als „Wolfs-Erwartungsland“. Doch ebenso sicher sind sie sich: Der Wolf kommt unaufhaltsam. Er wird nicht wieder angesiedelt, wie mitunter andere Tiere. Der Wolf erhält keine Hilfen, keine Unterstützung - er bricht sich selbst seine Bahn.
Schon gehen Horrorszenarien um: Was tun, wenn der Räuber in Dörfern durch die Straßen streicht? Zwar meint das Stuttgarter Umweltministerium, „grundsätzlich“ gebe es keine Gefahr für Menschen. Doch vorsichtshalber gibt es schon mal Verhaltensregeln aus: „Wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad Wölfen begegnet, die sich nicht zurückziehen, sollte auf sich aufmerksam machen und sich langsam entfernen.“
Sollten „Problemtiere“ dennoch weiter folgen, dürfe man auf keinen Fall Angst zeigen und etwa hastig weglaufen. „Fühlt man sich unwohl, stehenbleiben, laut rufen und in die Händen klatschen.“ Sollte das nichts nutzen, möge man „mit Gegenständen werfen“. Sonderlich beruhigend klingt das nicht. „Man muss nicht gleich in Panik verfallen, wenn man mal einen Wolf sieht“, versucht Klaus Lachenmaier vom Landesjagdverband zu beruhigen. „Kinder nicht auf die Straße lassen - das ist doch alles Unsinn.“
Wolfsexperte Fuhr will hingegen schlimme Begegnungen zwischen Wolf und Mensch nicht gänzlich ausschließen. In Nordspanien seien in den 70er Jahren drei Kinder getötet worden. Die Krux: Der Wolf ist zwar ein Raubtier, aber nicht unbedingt ein Tier der tiefen Wälder. „Der Mythos vom Tier, das unberührte Wildnis und weiträumig menschenleere Gebiete braucht, wird von der Realität überholt“, so das Ministerium. Wenn Wölfe „nachts gelegentlich Dörfer durchqueren“, sei das durchaus normal.
Die ersten Opfer sind die Schafe. „Wir wollen keinen Wolf, wir brauchen keinen Wolf“, meinte Friedrich Großhans vom „Arbeitskreis Muttertier“ unlängst unter dem Beifall von 200 Bauern bei einer Protestversammlung in Pfalzgrafenweiler. Das Problem: Längst sind die Zeiten vorbei, in denen die Schäfer auch nachts bei ihren Tieren bleiben.
Stattdessen sollen nun Zäune und eigens ausgebildete Herdenschutzhunde dem Räuber mit dem grauen Pelz Einhalt gebieten. Aber dafür müssen die Schäfer kräftig aufrüsten: Mindestens 90 Zentimeter hoch, robust und stabil sowie mit mindestens 4000 Volt geladen müssen die Zäune sein, wenn sie wirklich Sicherheit bringen sollen.
„Das sind Herausforderungen, die sich kein Betrieb leisten kann“, protestiert Anette Wohlfahrt vom Schafszuchtverband. Zwar gibt es staatliche Hilfen, doch die seien viel zu niedrig. „Unsere Existenz steht auf dem Spiel“, sagt Wohlfahrt. Politiker diskutieren bereits, ob nicht Jäger gegen das streng geschützte Tier vorgehen sollten - Tierschützer sind dagegen.
Längst ist die Debatte über die Rückkehr des Canis Lupus zum „Kulturkampf“ geraten. „Wie kein anderes Tier findet der Stammvater unserer Hunde direkten Zugang zu unseren Emotionen“, so Fuhr. Seit Urzeiten seien sich Mensch und Wolf begegnet, teilten denselben Lebensraum, jagten dieselben Beutetiere. Über 100 Jahre war der Wolf aus dem Südwesten verschwunden, jetzt müssten Mensch und Tier ein neues Verhältnis zueinander finden.