Christine Göttler-Kienzle beim Start ihrer spirituellen Reise im Pragfriedhof Foto: Martin Haar

Ohne Plan von Gott? Christine Göttler-Kienzle gibt ihren Teilnehmern bei einem spirituellen Rundgang durch den Norden Stuttgarts einen Kompass mit auf den Weg. Ganz im Geiste der französischen Mystikerin Madeleine Delbrêl.

Christine Göttler-Kienzle nennt sich selbst eine Straßenläuferin. Wobei das ihrem eigentlichen Einsatzgebiet nicht ganz entspricht. Die Frau, die in einer fortschrittlichen katholischen Kirche wohl eine Diakonin wäre, läuft in der Regel durch die schmutzigen und dunklen Gassen der Stadt. Dort ist die Not am größten. Und sie ist wie Madeleine Delbrêl davon überzeugt: Gott ist bei den Menschen zu finden. Genau diese Haltung, gepaart mit ihrem christlichen Auftrag, inspirierte sie zu einem besonderen Programmpunkt beim Katholikentag: „Ohne Plan von Gott – ein spiritueller Rundgang durch den Norden Stuttgarts.“

Schwestern im Geiste

„Da ich eine Quartiersarbeiterin bin“, sagt sie, „ist es mir wichtig, mit den Menschen draußen spirituelle Erfahrungen zu machen“. Und dazu nutzt Göttler-Kienzle die Poesie und Mystik einer Schwester im Geiste. Gemeint ist Madeleine Delbrêl (24.10.1904 – 13.10.1964), die bei ihrem sozialen Einsatz in Frankreich oft aneckte. Auch bei der Amtskirche. „Sie war wie ich mit ihrer Arbeit auf der Straße“, sagt die Stuttgarterin, „sie hat versucht, ihren Glauben außerhalb von festen Institutionen zu leben. Sie wollte gesellschaftliche Strukturen verändern“. Die Französin war der Ansicht, dass Gott sich in den Menschen zeige, denen man auf der Straße begegnet.

Von der Sozialarbeiterin, die mit zwei Gefährtinnen in Ivry im Geiste des Evangeliums eine kleine christliche Gemeinschaft gründete, stammt der Satz: „Wir anderen, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, diese Welt, auf die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, denn wenn das Nötige fehlte, hätte Gott es uns schon gegeben.“

So wurde Ivry ihre Schule des angewandten Glaubens. Genau hier sind wieder die Schnittpunkte zu Göttler-Kienzle. Sie will die Menschen bei ihrem spirituellen Spaziergang an solche Orte des Glaubens bringen. Sie startet im Pragfriedhof, läuft über die Gedenkstätte der Judendeportation und mündet nach einem Exkurs beim Urban Gardening im Milaneo. „Ich will die Leute an Orte bringen, die sie einerseits überraschen und mit dem eigenen Leben in Berührung bringen“, sagt Göttler-Kienzle.

Teilnehmer sind Feuer und Flamme

Wie es scheint, gelingt es ihr: Eine Teilnehmerin aus Ulm ist schon beim Start Feuer und Flamme für die Idee. Wie sie tauchen die übrigen 50 Teilnehmer tief in die Gedankenwelt von Madeleine Delbrêl ein. Das Credo der Delbrêl lautete: „Geht hinaus in euren Tag, ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu suchen, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens. Im Glauben haben wir Gott gefunden; wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben und zwar hier in unserer Stadt. Es geht also nicht darum, dass wir uns irgendwohin davon machen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns.“

Dazu stellt Göttler- Kienzle immer wieder die passenden Fragen. Im Pragfriedhof fragt sie: „Meine Endlichkeit und Verletzlichkeit – wie wird sie gerade berührt in diesen Tagen? An welche Grenzen stoße ich?“ An der Gedenkstätte Nordbahnhof lauten die Impulse: „Ich habe eine Geschichte. Ich bin Teil einer Geschichte. Ich habe Verantwortung für die Geschichte von morgen.“ Und eingedenk der vielen geschundenen jüdischen Seelen, die von hier aus ihrem Verderben entgegenfuhren, fragt sie: „Welche Schrei oder Aufschreie höre ich gerade.“

Sozialarbeiterin fordert Zivilcourage

Damit tritt Christine Göttler-Kienzle ganz in die Fußstapfen ihres Vorbilds: Sie überträgt ein lebendiges Gottesbild in die heutige Zeit und mutet ihren Zuhörern christliche, soziale Verantwortung zu. Die Sozialarbeiterin fordert Zivilcourage.

Bei den Wagenhallen und dem Urban-Gardening-Projekt geht die Reise weiter. Dieses Mal in die Tiefen der Seele: „Was will bei mir aufbrechen, was liegt bei mir brach? Wo erlebe ich meine Wildheit, mein unbändiges Leben?“ Alleine mit diesen Fragen hätte Christine Göttler-Kienzle die Reisegruppe in die Straßen Stuttgarts entlassen können. Schweigsam und nachdenklich. Aber die Stuttgarterin setzt noch einen Impuls oben drauf – und wieder artikuliert sie ihn im Wortlaut von Delbrêl: „Gib, dass wir unser Dasein leben nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist, nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen, sondern wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet, wie einen Ball, wie einen Tanz, in den Armen deiner Gnade, zu der Musik allumfassender Liebe.“ Diese Sätze von Madeleine Delbrêl wirken tief. Aber Göttler-Kienzle gibt sich damit noch nicht zufrieden. Sie fragt: „Was will ich tanzen?“ Im Geiste der Delbrêl kann es nur eine Antwort geben: Den Tanz des Lebens.