Katerina Poladjan im Lesart-Dialog mit dem Kritiker Christoph Schröder. Foto: Roberto Bulgrin

Katerina Poladjan ist eine deutsche Autorin mit russischen Wurzeln. In ihrem Roman „Zukunftsmusik“, den sie bei der Lesart vorgestellt hat, wird eine Gemeinschaftswohnung zur Metapher für die Sowjetunion vor Gorbatschow.

Der 11. März 1985 ist ein Datum, das sich in den Geschichtsbüchern verewigt hat: Konstantin Tschernenko, das greise Staatsoberhaupt der Sowjetunion, ist gestorben, Michail Gorbatschow übernimmt die Macht in Staat und Partei. Was das für die Welt, für sein Land und für jeden einzelnen Sowjetbürger bedeuten wird, ahnt noch niemand – am allerwenigsten Maria Nikolajewna, die irgendwo in Sibirien in einer Kommunalka lebt. Diese Gemeinschaftswohnung mit ihrer zusammengewürfelten Besetzung wird in Katerina Poladjans Roman „Zukunftsmusik“, den die Autorin bei der Esslinger Lesart vorgestellt hat, zum Brennspiegel der Absurditäten, die das Leben in einer Diktatur gebiert.

Hoch gelobt und viel beachtet

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren und kam Ende der 1970er-Jahre als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland. Die Romane „In einer Nacht, woanders“, „Vielleicht Marseille“ und „Hier sind Löwen“ haben ihr viel Lob eingebracht, mit „Zukunftsmusik“ (S. Fischer Verlag, 22 Euro) ist ihr „eines der meistbeachteten und höchstgelobten Bücher dieses Jahres gelungen“, wie der Literaturkritiker und Lesart-Moderator Christoph Schröder befand: „Und das nicht nur wegen der aktuellen Ereignisse in der Ukraine, sondern wegen der hohen literarischen Qualität dieses Romans.“

Wenn eine Autorin mit russischen Wurzeln auf der Bühne sitzt, darf es nicht überraschen, wenn der Moderator nachhakt, wie sie den russischen Überfall auf die Ukraine erlebt hat. „Ich glaube, ich bin nicht mehr die, die ich vorher war“, verriet Katerina Poladjan. Und sie ahnt: „Dieser Krieg wird für Generationen in den Köpfen bleiben.“ Auch wenn sie sich durch und durch als deutsche Autorin fühlt, verhehlt sie nicht: „Ein Gewissen habe ich trotzdem, denn ich komme aus diesem Land.“ Und das Entgleiten von Zivilisation und die Aushöhlung kulturellen Lebens in Russland sehen zu müssen, gehe nicht spurlos an ihr vorüber.

Mit ihrem Roman „Zukunftsmusik“ geht Katerina Poladjan in jenen schicksalsträchtigen März 1985 zurück, als Gorbatschows Glasnost und Perestroika noch nicht mal eine Ahnung waren in der sibirischen Kommunalka, in der sich Maria Nikolajewna mit Mutter, Tochter und Enkelin ein einziges Zimmer teilen muss. Fünf Parteien leben in der einst großbürgerlichen Wohnung zusammen, auch wenn sie wenig miteinander gemeinsam haben. So wird die Gemeinschaftswohnung zu einer Metapher für die Sowjetunion. Die Menschen sind geprägt von einem System, in dem eine eigene Meinung zum gefährlichen Risikofaktor werden kann, und in dem Angst systemstabilisierende Wirkung hat. „Und irgendwann beginnen die Menschen, sich selbst zu misstrauen“, sagt Poladjan. Die eigenen Gedanken werden zum letzten Rückzugsort.

Tragikomisch und skurril

Sie habe nicht versucht, mit ihrem Roman so etwas wie die russische Seele zu erklären, betonte die Autorin im Gespräch mit Christoph Schröder. Denn die sei wohl eher eine deutsche Erfindung. Katerina Poladjan wollte zeigen, wie Menschen in einer Diktatur leben und was dieses Leben mit ihnen anstellt. Jeder versucht auf seine Weise, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren, auch wenn der Alltag so manche kleine Tragödie bereithält. Alle spüren, dass es anders werden muss, doch keiner weiß so recht, wie genau es besser werden kann im Land. Doch fürs Erste bleibt ihnen nur, all die Herausforderungen des Alltags irgendwie zu meistern. So entstehen immer wieder Momente von Tragik, Komik und manchmal auch Skurrilität.

Katerina Poladjan zeichnet ihre Figuren liebevoll und mit einem Augenzwinkern. Denn ein Leben ohne Humor kann sie sich nicht vorstellen. Stilsicher schlägt sie einen Ton an, der an russische Klassiker wie Tschechow, Tolstoi oder Gogol erinnert. „Mich hat die Schönheit zwischen den Abgründen interessiert“, verriet die Autorin. Und die zutiefst menschlichen Momente, die auch die Diktatur nie völlig unterdrücken kann.