Alice Weidel soll als erste Kanzlerkandidatin der AfD ihre Partei in den nächsten Bundestagswahlkampf führen. Warum die Partei sie aufstellt, obwohl sie keine Chance auf das Amt hat, erklärt Politikwissenschaftler Benjamin Höhne im Interview.
Niemand möchte mit der AfD regieren – und trotzdem hat sich die Parteispitze entschieden, Alice Weidel bei der nächsten Bundestagswahl als Kanzlerkandidatin aufzustellen. Die Gremien der Partei müssen dem noch zustimmen. Welche Strategie verfolgt die AfD mit der Kanzlerkandidatur? Und warum setzt sie gerade auf Weidel? Das beantwortet der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne von der Technischen Universität Chemnitz.
Herr Höhne, keine Partei will mit der in Teilen rechtsextremistischen AfD koalieren. Dass die Partei nach der kommenden Bundestagswahl mit Weidel die nächste Kanzlerin stellen wird, ist also unrealistisch. Warum stellt die AfD trotzdem eine Kandidatin auf?
Eine Kanzlerkandidatur ist keine wahlrechtliche Position, sondern vor allem eine Inszenierung. Jede Partei kann jemanden dafür aufstellen. Wenn sie das tut, geht damit meist eine höhere mediale Aufmerksamkeit einher. Es ist auch ein Signal nach innen. Gleichzeitig unterstreicht die Partei so ihren Anspruch, als Regierungspartei wahrgenommen zu werden.
Woher nimmt die AfD diesen Anspruch?
Die Partei beruft sich auf ihre jüngsten Erfolge in Ostdeutschland. Dort ist die AfD bei den Landtagswahlen und der Europawahl stärkste Kraft geworden oder lag nur knapp hinter der erstplatzierten Partei. Daran will sie nun bundesweit anknüpfen. Im Westen und bei der Bundestagswahl wird die AfD aber weit von dieser Position entfernt sein. Übertreibung gehört zum Geschäftsmodell des Populismus.
Was sagt das über das Selbstbewusstsein der Partei aus?
Die Partei sieht sich als potenzielle Regierungspartei. Bei neuen Parteien außerhalb des etablierten Spektrums stellt sich immer die Frage: Sind sie bereit, exekutive Verantwortung zu übernehmen? Zum Beispiel war es innerhalb der Linkspartei immer ein Streitpunkt, ob man besser in der Opposition bleibt oder in einer Regierung Kompromisse eingeht. Diese Diskussion sehe ich in der AfD nicht. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die AfD Regierungsämter übernehmen möchte – so wie es auch andere rechtspopulistische Parteien in Europa schon getan haben.
Warum hat sich die Partei für Alice Weidel als Kandidatin entschieden?
Weidel schwimmt mit den Strömungen der Partei. Sie hat den Rechtsaußenkurs der vergangenen Jahre mitgetragen, ohne als eine Scharfmacherin des rechten Flügels öffentlich in Erscheinung getreten zu sein. Nicht zuletzt deshalb ist sie für viele Mitglieder sicherlich eine geeignete Kandidatin – anders als jemand, der dezidiert zum Rechtsaußenflügel gehört und damit mögliche Wähler und vor allem Wählerinnen in Westdeutschland verprellen würde. Der harte Rechtsaußenkurs, den die AfD im Osten eingeschlagen hat, wird im Westen wahrscheinlich nicht funktionieren.
Warum nicht?
Es fehlen noch Erfahrungswerte, wie die Wähler im Westen auf die radikalisierte AfD reagieren. Es zeigt sich aber: Obwohl die Partei bei der Landtagswahl in Bayern oder Niedersachsen Stimmen dazugewonnen hat, erhält sie nach wie vor weniger Zustimmung in den älteren Bundesländern als in den neueren. Diese Lücke könnte die AfD eher schließen, wenn sie sich wie Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich nach außen gemäßigter gibt.
In den vergangenen Jahren hat die AfD sich immer weiter nach Rechtsaußen bewegt und wird deshalb auch vom Verfassungsschutz beobachtet. Glauben Sie, dass die Partei mit der Aufstellung einer Kanzlerkandidatin ihren Kurs wechselt?
Die AfD steht vor der Frage, mit welcher gesamtdeutschen Strategie sie in den Bundestagswahlkampf zieht. In Ostdeutschland verfolgt sie zwei Taktiken gleichzeitig. Zum einen fährt die AfD einen Rechtsaußenkurs und versucht, die rechtsextremistische Szene langfristig an die Partei zu binden. Zum anderen versucht sie, sich möglichst normal zu geben, um ihren extremistischen Kern zu verdecken. So möchte sie möglichst viele Stimmen sammeln und als regierungsfähig anerkannt werden, insbesondere von der CDU. Darüber, welchen Weg die Partei im Bundestagswahlkampf geht, wird noch intern gerungen werden. Die ostdeutschen Verbände glauben an ihr erprobtes Erfolgsrezept. Die Westverbände sind zögerlicher.
Wie sollten die anderen Parteien damit umgehen, dass die AfD nun mit Weidel eine Kanzlerkandidatin hat?
Die anderen Parteien werden dies wahrscheinlich ignorieren – und das halte ich für richtig. Die Kanzlerkandidatur ist eine Inszenierung. Da steckt keine realistische Machtoption dahinter. Die anderen Parteien werden dieses Showelement der AfD nicht noch verstärken, indem sie von der Kanzlerkandidatin Weidel sprechen.
Zur Person
Professor
Der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne wurde 1978 geboren und vertritt aktuell an der Technischen Universität Chemnitz die Professur für Europäische Regierungssysteme im Vergleich. Er studierte in Leipzig und Halle (Saale) und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft unter anderem an Universitäten in Trier, Potsdam und Magdeburg.
Experte
Höhne forscht und lehrt zu politischen Parteien und dem Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland mit Schwerpunkt auf Ostdeutschland. 2022 wurde er zum Sprecher des Arbeitskreises Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft gewählt.