Für die Mobile Jugendarbeit im Europaviertel im Einsatz: Simon Fregin. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Über Jugendgewalt und bewaffnete Auseinandersetzungen gibt es Zahlen und Statistiken – wie erleben es aber diejenigen, die mit den Jugendlichen in Kontakt stehen?

Stuttgart - Mit Messer, Schlagstock, Schusswaffe: Die Gewaltdelikte mit Gruppen junger Männer häufen sich derzeit in und um Stuttgart – und das lässt auch die Mobile Jugendarbeit nicht kalt, die den Mailänder Platz als sozialen Brennpunkt weitgehend befriedet hat. „In der Tat werden immer wieder Messer mitgeführt“, sagt Simon Fregin, Projektleiter der Sozialarbeiter im Europaviertel, „und tendenziell dürften auch mehr Messer im Umlauf sein.“

Zahlen darüber hat er nicht. Überhaupt ist das so ein Ding mit den Zahlen. Da gibt es Kriminologen in Niedersachsen, die bei Schülerbefragungen herausgefunden haben, dass jeder dritte männliche Jugendliche in seiner Freizeit zumindest gelegentlich ein Messer dabeihat. Und da gibt es polizeiliche Statistiken, die nach Jahren des Anstiegs bei Messerdelikten mit unter 21-Jährigen für das vergangene Jahr erstmals wieder einen Rückgang feststellen. Jedoch gibt es auch elf Verletzte bei bewaffneten Konflikten, die sich in den vergangenen Tagen in Stuttgart, Nürtingen, Esslingen, Böblingen, Plochingen, Schorndorf und Schönaich abgespielt haben.

Streetworker mit Vorsichtsmaßnahmen

Trotzdem ist das Messer immer öfter auch ein Thema unter den Sozialpädagogen. Zwar gibt es da einen Widerspruch: „Ich persönlich habe noch keinen Konflikt erlebt, bei dem es zu einer Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen und unbeteiligten Erwachsenen gekommen ist“, sagt Fregin. Deshalb seien viele Ängste in der Öffentlichkeit unbegründet. Doch gleichzeitig haben die Streetworker selbst Absprachen zu ihrem persönlichen Schutz im Konfliktfall getroffen. „Zeugen einer Auseinandersetzung sollten sich nicht selbst in Gefahr bringen, sondern die Polizei informieren und sich als Zeuge zur Verfügung stellen“, sagt er.

Der Mailänder Platz galt als Problemzone. Das Einkaufszentrum wurde zum Magnet verschiedener Gruppen, die benachbarte Stadtbibliothek war massiv betroffen. Als im März 2017 ein 22-Jähriger in der nahen Stadtbahnstation fünf Menschen verletzte, wurde klar, dass hier allein polizeiliche Repression nicht helfen würde. Evangelische Gesellschaft und Caritas starteten das Streetwork-Projekt mit vier Jugendsozialarbeitern und einem Wohnwagen.

Das Messer dient nur dem „Selbstschutz“

Wenn Fregin und seine Mitstreiterinnen bei den Jugendlichen nachfragen, warum sie ein Messer dabeihaben, dann hören sie meistens etwas von „Selbstschutz“. Was Fregin kritisch sieht: „Wo kein Messer ist, da gibt es auch keine Messerstecherei – und wo ein Messer ist, wird bald auch ein zweites sein.“

Das versuche man den Jugendlichen zu erklären. Der Zürcher Kriminalwissenschaftler Dirk Baier hat gegenüber unserer Zeitung ein klares Verbot des Messertragens für Jugendliche gefordert, also auch von Messern, die nicht als Waffe im Sinne des Waffengesetzes gelten. Erlaubt sind nämlich Taschenmesser oder Klingen mit weniger als 8,5 Zentimetern.

Der Streetworker sieht die Forderung zwiespältig: „Das verschärfte Verbot wäre ein starkes Symbol, dass wir als Gesellschaft das nicht wollen“, sagt er, „die Wirkung aber wird gering sein.“

Verlängerung für Mobile Jugendarbeit

Wichtig bei der Diskussion sei auch zu wissen, dass der öffentliche Raum, in dem sich junge Menschen bewegen könnten, ohne irgendetwas konsumieren zu müssen, in der Stadt immer geringer geworden sei. „Konsumorte sind wesentlich attraktiver als ein dunkler abseitiger Sportplatz“, sagt Fregin. Und wenn an wenigen Orten viele Jugendliche aufeinandertreffen, „dann knallt es dort gegebenenfalls“. Fast immer spiele dabei auch die Wechselwirkung von Alkohol und Gewalt eine Rolle.

Die Friedensarbeit der Mobilen Jugendarbeit jedenfalls wird als Erfolg gewürdigt. Das Projekt mit seinen 2,5 Stellen Sozialarbeit und einer Stelle kulturelle Jugendbildung sollte eigentlich im Februar 2020 auslaufen – und wird nun von der Stadt weiterfinanziert.