Eine Mitarbeiterin der Stiftung Tragwerk nimmt ein Kind auf, dessen Familie mit der Erziehung überfordert ist. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich im Kreis Esslingen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Die Stiftung Tragwerk nimmt Kinder in Wohngruppen auf.

Kreis EsslingenDie kleine Nora ist gerade aus dem Mittagsschlaf aufgewacht. Anne B. (Namen geändert) nimmt das anderthalbjährige Mädchen auf den Schoß, die Kleine kuschelt sich vertrauensvoll an ihre Schulter. Anne B. ist jedoch nicht die Mutter des Mädchens, auch nicht von ihrem etwas älteren Bruder, der auf dem Boden sitzend im Bilderbuch blättert. Sie stellt sich vielmehr für Erziehungs-Notfälle zur Verfügung. Inobhutnahme heißt der bürokratische Begriff dafür. Die Frau, Mitte 50, lebt in einer Gemeinde im Kreis Esslingen, hat selbst vier Kinder großgezogen und arbeitet für die Stiftung Tragwerk in Kirchheim, eine von drei Einrichtungen im Landkreis, die Kinder aufnehmen, die gefährdet sind oder deren Eltern gerade nicht in der Lage sind, sich angemessen um sie zu kümmern. Im Unterschied zur Aufnahme in einer Pflegefamilie dauert die Inobhutnahme in der Regel nur einige Wochen, nach 28 Tagen sollte eine Lösung gefunden sein.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Inobhutnahmen verdoppelt. 109 Fälle hat Tragwerk im vergangenen Jahr zugewiesen bekommen. Das sind etwa ein Drittel aller Fälle im Landkreis, schätzt Vorstandsvorsitzender Jürgen Knodel. Ein Grund dafür könne die gestiegene Aufmerksamkeit in der Gesellschaft für das Thema Kinderschutz sein. Entscheidend sei aber eher, dass Familien heute mehr Unterstützung benötigen. „Früher war Jugendhilfe eher die Ausnahme, heute gehört Hilfe dazu“, sagt Knodel und betont, es sei besser, frühzeitig Fachleute einzuschalten. Alleinerziehende und Patchwork-Familien seien häufiger überfordert, Einkommensverhältnisse sind laut Knodel nicht entscheidend.

Manchmal melden sich die Eltern, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Manchmal, etwa wenn das Kind blaue Flecken hat, wendet sich die Schule an den Sozialen Dienst. Sind die Eltern mit der Inobhutnahme nicht einverstanden, kann ein Richter diese für 28 Tage anordnen.

Bei der Stiftung Tragwerk kommen die Kinder in der Regel in eine der zwölf Wohngruppen. Inobhutnahme-Familien gibt es derzeit wenige, weil etliche ausgestiegen sind, nachdem ihre eigenen Kinder erwachsen geworden sind. Bevor eine Familie für diese Aufgabe in Frage kommt, wird sie geprüft. Stefanie Frick, die pädagogische Leiterin für ambulante Hilfen bei Tragwerk, führt zunächst mehrere Vorgespräche, bevor die Familie dem Pflegekinderdienst vorgestellt und von ihm zertifiziert wird. Zwei Bedingungen müssen auf jeden Fall erfüllt sein: Für das Kind muss ein Extra-Zimmer vorhanden sein und das Betreuungsgeld darf nicht für das Familieneinkommen nötig sein.

Unabhängig davon, ob das Kind in der Wohngruppe oder privat aufgenommen wird, versuchen die Tragwerk-Pädagogen, schnell herauszufinden, woran es in der Familie hakt und wie eine Lösung aussehen könnte. Die Mehrheit der Kinder, etwa 80 Prozent, kehrt innerhalb der ersten Wochen wieder nach Hause zurück. Häufig stellten die Kinder schon nach zwei oder drei Tagen fest, dass auch in der Wohngruppe Regeln gelten, und kehren dann bald wieder nach Hause zurück, erzählt Frick. Eltern und Kinder werden dann anschließend von ambulanten Hilfen begleitet.

Für komplexe Fälle, die auch länger dauern können, greift Stiftung Tragwerk gern auf Anne B. zurück, die als Heilpädagogin beruflich qualifiziert ist und in den vergangenen Jahren rund 50 Kinder bei sich aufgenommen hat. Auch Fälle, bei denen Anonymität gewährleistet werden muss, weil ein Elternteil das Kind zu sich holen könnte, sind bei Anne B. gut aufgehoben. Vor zwölf Jahren wurde sie von Tragwerk gefragt, ob sie nicht mehr machen könnte, als gelegentlich Nachhilfe geben. Frau B. sagte zu. Trubel war sie von den eigenen Kindern gewohnt: „Bei uns waren schon immer viele im Haus.“ Ihr Mann sei ebenfalls sehr gastfreundlich. „Meine Familie hat das immer mitgetragen.“ Nur einmal in diesen zwölf Jahren hat es nicht funktioniert, als ein Mädchen ständig gestohlen hat. Manche Kinder halten den Kontakt zu ihrer Aufnahmefamilie. Ein Mädchen habe anfangs täglich eine Whatsapp geschickt, um sich Rat von ihrer Ersatzmutter zu holen, erzählt Anna B. Ein Junge sei zu einer Art Ziehsohn geworden und komme immer wieder auf Besuch.

Für Therapie ist die aufnehmende Familie eigentlich nicht zuständig. Aber kleine Kinder erzählten sofort „was daheim abgeht“, berichtet Anna B., durchs Erzählen könnten sie traumatische Erlebnisse verarbeiten. Ältere Kinder seien zunächst vorsichtig. „Du bist hier Gast und musst nicht reden“, erklärt ihnen dann Anna B. Meist wollten sie aber nach einer Woche doch sprechen. „Letztlich erfährt man alles und dann kann man es zusammen bearbeiten.“ In der neuen Interims-Familie passieren manchmal auch „kleine Wunder“, sagt Stefanie Frick. Kinder lernen plötzlich sprechen, lernen laufen oder werden trocken.

Vernachlässigung und Misshandlung durch die Eltern, Wut und Aggression der Kinder, das sind häufig die Erscheinungsbilder der Not. Was Anna B. von den Kindern erfährt, erleichtert auch das Fallmanagement. Mit diesem Wissen können Pädagogen und Jugendamt mit den Eltern reden und ihnen Hilfe anbieten. „Oft sind die Eltern einfach am Ende ihrer Kräfte“, weiß Frick. Durch die Inobhutnahme komme häufig wieder Ruhe in die Familie hinein. Fällt Anna B. der Abschied von ihren Schützlingen nicht schwer? Der Abschied falle auch den Kindern schwer, sagt sie. „Aber wenn ich sehe, dass eine Lösung gesucht wird oder gefunden wurde, dann kann ich die Kinder auch gehen lassen.“

Wer Interesse hat, selbst Inobhutnahme-Familie zu werden, kann sich melden bei 07021/5008-58 oder frick.s@stiftung-tragwerk.de