Pfarrer Dirk Schmidt liegt es am Herzen, die Erinnerung an Julius von Jan wachzuhalten. Foto: Andreas Kaier - Andreas Kaier

In seiner Bußtagspredigt am 16. November 1938 fand der Oberlenninger Pfarrer Julius von Jan deutliche Worte gegen die Verfolgung der Juden. Nachdem ihn im vergangenen Jahr in Yad Vashem der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen worden ist, wird nun im Garten der St. Martinskirche in Oberlenningen ein neuer Gedenkort eingeweiht.

LenningenDie Gemeinde hatte sich am Buß- und Bettag versammelt, um gemeinsam zu singen, zu beten und der Predigt ihres Pfarrers zu lauschen. Was Julius von Jan an jenem 16. November 1938 in der Oberlenninger St. Martinskirche den Gläubigen mit auf den Weg gab, sollte jedoch nicht ohne Folgen bleiben. In seiner Predigt „O Land, Land, Land, höre des Herren Wort“ prangerte er offen die Verfolgung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger an und wurde – nach diesen deutlichen Worten weitgehend alleine gelassen – selbst zum Verfolgten. Nachdem die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem dem mutigen Kirchenmann im vergangenen Jahr posthum den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen hat, erfährt er nun in Oberlenningen eine weitere Würdigung. Im Garten der St. Martinskirche wird ein Gedenkort eingerichtet. „Es soll ein Ort des Erinnerns und der stillen Mahnung sein“, sagt Gemeindepfarrer Dirk Schmidt.

In der Gemeinde am Fuß der Schwäbischen Alb ist der Name Julius von Jan noch seit vielen Jahren präsent. Das Gemeindehaus trägt ebenso den Namen des Pfarrers wie der Platz vor der Kirche. Am Eingang zur St. Martinskirche erinnert ein Bronzerelief an den 1897 nahe Neresheim geborenen Theologen, der schon kurz nach der Machtübernahme mit dem NS-Regime in Konflikt geraten war und sich der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte. Nachdem er 1935 die Pfarrstelle in Oberlenningen übernommen hatte, trat er als Vertrauensmann im Dekanatsbezirk Kirchheim für verfolgte Pfarrer ein. Seit zwei Jahren trägt auch die evangelische Kirchengemeinde, zu der die Gemeinden in Brucken, Lenningen und Oberlenningen gehören, den Namen des Nazi-Gegners. „Als wir uns zu einer Gemeinde zusammengeschlossen haben, hat meine Kollegin Margret Oberle in Brucken den Vorschlag gemacht, uns nach Julius von Jan zu benennen“, berichtet Dirk Schmidt. „Und alle waren sofort damit einverstanden.“ Nun steht im Lenninger Tal eine weitere Fusion an. Die Gemeinden in Gutenberg und Schopfloch werden demnächst dazukommen. Schmidt hofft, dass sich auch die neuen Mitglieder den Namen der Gemeinde zu eigen machen. „Schließlich wurde Julius von Jan damals in Schopfloch aus der Bibelstunde gezerrt.“

Neun Tage bevor er dort verhaftet wurde, hatte der Dorfpfarrer die Überfälle der NS-Schergen auf die jüdische Bevölkerung während des Novemberpogroms gegeißelt und seine Gemeinde zur Umkehr aufgerufen: „Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört“, schallte es am 16. November 1938 von der Kanzel der Oberlenninger Kirche. „Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben, wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten. . . Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss.“ Der Pfarrer war überzeugt, dass Gott diese Taten bestrafen werde: „Denn es steht geschrieben: Irret Euch nicht, Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Ja, es ist eine entsetzliche Saat. Welche entsetzliche Ernte wird daraus erwachsen?“, heißt es in der Bußtagspredigt. Eine Woche später kritisierte von Jahn in einer zweiten Predigt erneut die Verfolgung von Juden und Andersdenkenden und sprach von Sünde, die das deutsche Volk auf sich geladen habe. „Julius von Jan hat deutlich gesehen, dass Unrecht gegen das Wort Gottes geschieht und das Wort Gottes, das immer auf die Mitmenschlichkeit zielt, Schaden nimmt“, sagt Dirk Schmidt, der von Jan zwar nicht persönlich kennengelernt, sich aber viel mit ihm beschäftigt hat. „Nach allem, was ich über ihn gelesen habe, war er zwar kein wortgewaltiger Prediger, aber ein Pfarrer, der seine Predigten vorher genau reflektiert und sie dann in Ruhe vorgetragen hat.“

Bevor Julius von Jan am 25. November 1938 festgenommen wurde, war das Oberlenninger Pfarrhaus mit Plakaten umstellt worden, auf denen das Wort „Judenknecht“ zu lesen war. Der Pfarrer riss die Plakate ab und machte sich auf den Weg nach Schopfloch. Während er den Bibelabend hielt, drangen daheim rund 200 Leute der SA gewaltsam ins Pfarrhaus ein. Als sie den Pfarrer dort nicht fanden, schickten sie eine Abordnung nach Schopfloch, um ihn zurück nach Oberlenningen zu bringen. Dort angekommen, überließ die SA ihn den Demonstranten, die – wie Julius von Jan in den 50er-Jahren dem Evangelischen Stuttgarter Sonntagsblatt berichtete – von allen Seiten auf ihn einschlugen und ihn zum Schluss aufs Dach des Geräteschuppens warfen. „Als ich dort lag und die Menge lästern und toben hörte, erfüllte mich trotz aller körperlichen Mattigkeit ein tiefer Friede und ein großes Mitleid mit den von Dämonen gehetzten Menschen, für die ich von Herzen beten konnte.“ Der Leidensweg des mutigen Kirchenmanns war aber noch nicht beendet. Nach mehrmonatiger Haft wurde er aus Württemberg-Hohenzollern ausgewiesen. Gemeinsam mit seiner Familie flüchtete er nach Bayern. Dort wollte ihn der Landesbischof zwar in einer Gemeinde anstellen, was der örtliche Bürgermeister und die Gestapo aber verhinderten. In einem Freizeitheim der Bayerischen Landeskirche fand Julius von Jan zunächst Zuflucht. Am 15. November 1939 stellte man ihn aber in Stuttgart vor ein Sondergericht und verurteilte ihn zu 16 Monaten Haft, von denen er fünf in Landsberg am Lech absitzen musste. Eine Einweisung ins Konzentrationslager hatte die Kirchenleitung zwar verhindert. Öffentlich missbilligte sie jedoch die „Polemik“ sowie den politischen Inhalt seiner Bußtagspredigt und leitete ein Disziplinarverfahren gegen ihren Pfarrer ein.

Dass die Kirchenleitung Julius von Jan und andere mutige Pfarrer damals alleine gelassen und keine deutlichen Worte gegen Antisemitismus und Verfolgung gefunden hat, beschämt heute viele Protestanten. „Um Mut müssen wir in der Kirche immer wieder ringen“, sagt Dirk Schmidt. „Und das heißt auch, dass wir den Mund aufmachen.“ Dem aus Westfalen stammenden Gemeindepfarrer liegt es nicht nur am Herzen, die Erinnerung an den Widerstandskämpfer durch den neuen Gedenkort wach zu halten. „Wir müssen die Predigt Julius von Jans in einen größeren Zusammenhang stellen und das, etwa im Konfirmandenunterricht, auch an die nachfolgende Generation weitergeben.“ Dies sei umso wichtiger, als es bald keine Zeitzeugen mehr gibt, die von den Gräueltaten der Nationalsozialisten berichten können.

„Gerechter unter den Völkern“

Yad Vashem: Der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ wurde nach der Staatsgründung Israels eingeführt. Mit diesem Titel werden Einzelpersonen geehrt, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben eingesetzt haben, um Juden vor der Ermordung zu retten. 1953 erhielt die Gedenkstätte Yad Vashem den Auftrag, eine Gedenkabteilung für die „Gerechten aus den Völkern“ einzurichten. Wer den Ehrentitel erhält, bekommt eine speziell geprägte Medaille mit seinem Namen und dem Zitat: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet“. Am 1. Januar dieses Jahres trugen 27 362 Menschen aus 51 Ländern die Ehrenbezeichnung.

Gedenkort: Der neue Gedenkort für Julius von Jan wird an der Mauer des Kirchhofs in Oberlenningen eingerichtet. Neben seinem Grabstein, wird linker Hand eine Tafel angebracht, auf der in Hebräisch und Deutsch Worte aus seiner Predigt zu lesen sind. Rechts vom Grabstein erfährt man auf einer weiteren Tafel die Geschichte Julius von Jans und seiner Bußtagspredigt. „Außerdem wird dort ein QR-Code angebracht, der zur Homepage unserer Gemeinde führt“, erklärt Pfarrer Dirk Schmidt. Die Idee zu dem Gedenkort im Kirchgarten entstand, nachdem in Korntal das Grab des früheren Pfarrers aufgelöst worden war. Dort hatte der dem schwäbischen Pietismus verbundene Theologe, der 1945 in seine Gemeinde nach Oberlenningen zurückgekehrt war, bis zu seinem Tod am 21. Oktober 1964 gelebt. Schmidt nahm Kontakt zu Julius von Jans Sohn Richard auf. „Er war damit einverstanden, dass wir den Grabstein von Korntal nach Oberlenningen holen.“

Gedenkfeier: Am Sonntag, 20. Oktober, wird in Oberlenningen Julius von Jan gedacht. Landesbischof Frank Otfried July wird den Mut des Theologen würdigen und die Bedeutung der Ehrung des württembergischen Pfarrers in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hervorheben. Susanne Jakubowski vom Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) wird ein Grußwort sprechen, ebenso Richard von Jan als Nachfahre. Nach der von Klezmer-Musik umrahmten Feierstunde in der Kirche, bei der auch die Bußtagspredigt nochmals verlesen wird, werden Landesbischof July und Richard von Jan im Kirchgarten den Gedenkort enthüllen.

Der Termin: Die Feier zum Gedenken an Julius von Jan beginnt um 14.30 Uhr in der St. Martinskirche, Marktstraße 12, in Oberlenningen.