Wie viele andere Meisterregisseure hat nun auch Sam Mendes seine Liebeserklärung ans Kino gedreht. „Empire of Light“ verbindet nostalgische Schwermut mit brandaktuellen Fragen: Was ist aus den gesellschaftlichen Aufbruchversprechen der 60er Jahre geworden?
Als wäre die krisengeschüttelte Kinokultur bereits auf Abschiedstournee, beschwören Meisterregisseure deren besonderen Reiz in cineastischen Liebeserklärungen: Märchenhaft Guillermo del Toro im Mystery-Thriller „Shape of Water“ (2017), grandios Damien Chazelle im romantischen Musical „La La Land“ (2016) und grandios gescheitert in der Hollywood-Farce „Babylon“ (2023), mit großem Schauspielerkino Quentin Tarantino in „Once Upon a Time in Hollywood“ (2019), pointiert Steven Spielberg im autobiografischen Familiendrama „The Fabelmans“ (2022).
Nun reiht sich der Arthaus- und James- Bond-Regisseur Sam Mendes („American Beauty“, „Skyfall“) ein mit einer sehr britischen Perspektive. „Empire of Light“ spielt im Jahr 1980 in einem wunderschönen alten Filmtheater an der wolkenverhangenen Kanalküste. Dort hat Hilary (Olivia Colman) ein Refugium gefunden. Sie gilt als spinnert, war schon in der Psychiatrie und ist das, was früher als „Mädchen für alles“ bezeichnet wurde – hier auch für die lüsternen Übergriffe ihres Chefs Mr. Ellis (Colin Firth). Dass mit der zumeist stillen Frau etwas nicht stimmt, erfährt der neue Kartenabreißer Stephen (Micheal Ward), als Hilary ihn nach erster freundschaftlicher Annäherung wegen einer Kleinigkeit unvermittelt anschreit.
Melancholische Schwermut und größere Fragen
Abgesehen von seiner Mutter ist Stephen damals nahezu der einzige dunkelhäutige Mensch im südostenglischen Margate. Und der einzige, der sich dafür interessiert, was der beflissene Filmvorführer Norman (Toby Jones) in seinem Reich treibt: Mit komplexer mechanischer Projektionstechnik entlockt er Zelluloidrollen die Magie der bewegten Bilder. „Dieser kleine Lichtstrahl ist eine kleine Flucht“, erkennt Stephen – womit zum Kino alles gesagt wäre.
Melancholische Schwermut schwingt da mit, doch Mendes baut eine viel breitere Brücke in die Gegenwart. Er stellt größere Fragen, die 40 Jahre später aktueller sind denn je: Was ist geworden aus dem gesellschaftlichen Versprechen von Gleichberechtigung und gleichen Chancen, ungeachtet von Geschlecht, Abstammung und Herkunft?
Olivia Colman brilliert einmal mehr
Hilarys verwundete Seele ist direkt verknüpft mit ihrem Wunsch, sich von Männern nichts mehr gefallen zu lassen. Zur Filmpremiere erscheint sie in einem irren Abendkleid, konfrontiert Mrs. Ellis im Foyer und dichtet als weibliche Hamlet-Version Shakepeare um in einen Spott auf deren übergriffigen Ehemann. Die Engländerin Olivia Colman hat einen Oscar bekommen für ihre grandiosen Auftritte als wahnhafte Queen Anne im Historiendrama „The Favourite“ (2018), sie brillierte als Tochter eines demenzkranken Greises in „The Father“ (2020) und als Literaturprofessorin mit Kindheitstrauma in Maggie Gyllenhaals Elena-Ferrante-Verfilmung „Frau im Dunkeln“ (2020). In „Empire of Light“ nun ziehen ganze Gefühlswetterlagen in Sekundenbruchteilen durch ihr Gesicht, wenn sie sich über etwas freuen müsste, das sie in tiefe Verzweiflung stürzt.
Stephen schwebt in latenter Gefahr durch Rassisten aller Art, auch körperlich. Micheal Ward macht aus ihm einen pfiffigen, feinsinnigen Jungen, dem man glaubt, dass er verletzte Vögel rettet und das Potenzial hätte, Architektur zu studieren – er ist vom ersten Moment an der Sympathieträger in „Empire of Light“. Mendes unterfüttert die Symbolik mit Zitaten aus der Popkultur. Stephen hört den Ska der Specials, einer der frühen Popbands, in denen schwarze und weiße Musiker gemeinsame Sache machten. Hilarys Martyrium begleiten Bob Dylan, Joni Mitchell und Cat Stevens, Stimmen des bürgerrechtsbewegten Aufbruchs der späten 60er Jahre, um dessen Vermächtnis es hier geht.
Es geht um das Vermächtnis der bürgerbewegten 60er
Die Affäre zwischen der reifen Hilary und dem einsamen Stephen mag ein wenig konstruiert wirken, sie taugt aber hervorragend, um gesellschaftliche Isolation vorzuführen. Das wusste schon Rainer Werner Fassbinder, in dessen Film „Angst essen Seele auf“ (1974) eine deutsche Witwe einen deutlich jüngeren Marokkaner heiratet.
Hilary erlebt im Kino jene tränenselige Bewegtheit, die Franz Kafka 100 Jahre zuvor in vier wunderbare Worte gefasst hat: „Im Kino gewesen. Geweint.“ Sie sieht, damals aktuell, „Being there“ („Willkommen, Mr. Chance“, 1979) von Hal Ashby. Peter Sellers spielt darin einen Gärtner mit kindlichem Gemüt, der dank seiner intuitiven Weisheit zum Präsidentenberater aufsteigt. Gemäß seiner Profession arbeitet er mit den Metaphern eines Pflanzers und Hegers.
Dazu passt die Lyrik, die die sensible Hilary liebt. Sie rezitiert Gedichte von Alfred Tennyson und Philip Larkin. „The Trees“ handelt von der Wiedergeburt der Natur im Frühling und steht als Metapher dafür, dass auch Menschen Vergangenes ablegen und Neues beginnen können. Allerdings sind sie Gewohnheitstiere, Veränderungsprozesse können Ängste auslösen und lange dauern. Für junge Menschen kann das frustrierend sein, wie die Massivität der Wokeness-Bewegung und die Verzweiflungstaten von Klimaaktivisten zeigen. Mendes’ historisch maskierter Film ist brandaktuell.
Empire of Light. GB 2022. Regie: Sam Mendes. Mit Olivia Coleman, Micheal Ward, Colin Firth. 113 Minuten. Ab 12 Jahren.
Der Regisseur und seine Hauptdarstellerin
Sam Mendes
Geboren 1965 im englischen Reading, beginnt er seine Karriere als Theatermacher im Londoner Westend. Für sein Filmdebüt „American Beauty“ bekommt er den Regie-Oscar. Das 50er-Jahre-Drama „Zeiten des Aufruhrs“ (2008) mit seiner Ex-Frau Kate Winslet und Leonardo DiCaprio wird ebenso gefeiert wie sein erster James-Bond-Film „Skyfall“ (2012).
Olivia Colman
Geboren 1974 im englischen Norwich, will sie zunächst Grundschullehrerin werden. Im Theaterclub der Universität Cambridge entdeckt sie ihre schauspielerische Neigung. Sie wird mit britischen TV-Serien bekannt, etwa als Ermittlerin im Krimidrama „Broadchurch“. Für ihre Rolle als Agentin in der Miniserie „The Night Manager“ (2017) bekommt sie einen Golden Globe. Im Kino ist sie als Dienstmädchen in „Mord im Orient-Express“ (2017) zu sehen und als verrückte Monarchin im Historienfilm „The Favourite“ (2018).